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nächsten Sekunde war Georg tuschiert.
»Nur weiter!« rief Georg und empfand es wie ein Glück, daß er in
verwegener Stellung, die blitzende, schlanke Waffe in der Hand, dem Bruder
gegenüber stehen durfte.
Felician traf ihn, so oft es ihm beliebte, ohne nur ein einziges Mal selbst
berührt zu werden. Dann ließ er den Degen sinken und sagte: »Du bist heut zu
müd, es hat keinen Sinn. Aber du solltest wieder fleißiger in den Klub
kommen. Ich versichre dich, es ist schad, bei deinen Anlagen.«
Georg freute sich des brüderlichen Lobs. Er legte den Degen auf den Tisch,
atmete tief und ging zu dem offenen, breiten Mittelfenster. »Wundervolle
Luft!« sagte er. Aus dem Park schimmerte eine einsame Laterne, es war
vollkommene Stille.
Felician trat zu Georg hin, und während dieser sich mit beiden Händen auf
die Brüstung stützte, blieb der ältere Bruder aufgerichtet stehen und ließ einen
seiner ruhig-hochmütigen Blicke über Straße, Park und Stadt schweifen. Sie
schwiegen beide lang. Und sie wußten, daß jeder an dasselbe dachte: an eine
Mainacht heuer im Frühjahr, in der sie zusammen durch den Park nach Hause
gegangen waren, und der Vater sie von demselben Fenster aus, an dem sie
jetzt standen, mit stummem Kopfnicken begrüßt hatte. Und beide
durchschauerte es ein wenig bei dem Gedanken, daß sie heute den ganzen Tag
so lebensfroh hingebracht hatten, ohne sich mit Schmerzen des geliebten
Mannes zu erinnern, der nun unter der Erde lag.
»Also gute Nacht«, sagte Felician, weicher als sonst und reichte Georg die
Hand. Er drückte sie wortlos, und jeder ging in sein Zimmer.
Georg schaltete die Schreibtischlampe ein, nahm Notenblätter hervor und
begann zu schreiben. Es war nicht das Scherzo, das ihm eingefallen war, als
er vor drei Stunden mit den andern unter schwarzen Wipfeln durch die Nacht
gesaust war; und auch nicht die melancholische Volksweise aus dem
Restaurant; sondern ein ganz neues Motiv, das wie aus geheimen Tiefen
langsam und unaufhaltsam emporgetaucht kam. Es war Georg zu Mute, als
müßte er nur ein Unbegreifliches gewähren lassen. Er schrieb die Melodie
nieder, die er sich von einer Altstimme gesungen oder auch auf der Viola
gespielt dachte; und eine seltsame Begleitung tönte ihm mit, von der er
wußte, daß sie ihm nie aus dem Gedächtnis schwinden konnte.
Es war vier Uhr morgens, als er zu Bette ging; beruhigt wie einer, dem
niemals im Leben etwas Übles begegnen kann, und für den weder Einsamkeit,
noch Armut, noch Tod irgendwelche Schrecken haben.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik