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nach einer unglücklichen Leidenschaft für eine Art von Provinz-Don Juan in
Schwermut verfallen, und krankhaft eigensinnig gab sie dem Bruder, mit dem
sie sich in der Jugend vortrefflich verstanden hatte, die Schuld an dem
Unglück des elterlichen Hauses. Auch von andern Verwandten erzählte
Heinrich, deren er aus früherer Zeit sich erinnerte, und ein teils lächerlicher,
teils rührender Zug fromm beschränkter alter Juden und Jüdinnen schwebte
an Georg vorüber, wie Gestalten einer andern Welt. Er mußte es am Ende
begreifen, daß Heinrich durch keinerlei Heimweh nach jener kleinen, von
kläglichem Parteihader zerrissenen Stadt, in die dumpfe Enge des zugrunde
gehenden Elternhauses sich zurückgerufen fühlte, und sah ein, daß Heinrichs
Egoismus ihm zugleich Rettung und Befreiung bedeutete.
Vom Turm der Michaelerkirche schlug es neun, als Georg vor dem
Kaffeehaus stand. An einem Fenster, das der Vorhang nicht verhüllte, sah er
den Kritiker Rapp sitzen, einen Stoß von Zeitungen vor sich auf dem Tisch.
Eben hatte er den Zwicker von der Nase genommen, putzte ihn, und so sah
das blasse, sonst so hämisch-kluge Gesicht, mir den stumpfen Augen wie tot
aus. Ihm gegenüber, mit ins Leere gehenden Gesten, saß der Dichter Gleißner,
im Glanze seiner falschen Eleganz, mir einer ungeheuern, schwarzen
Krawatte, darin ein roter Stein funkelte. Als Georg, ohne ihre Stimmen zu
hören, nur die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und
hergehen sah, faßte er es kaum, wie sie es ertragen konnten in dieser Wolke
von Haß sich eine Viertelstunde lang gegenüber zu sitzen. Er fühlte mit
einemmal, daß dies die Atmosphäre war, in der das Leben dieses ganzen
Kreises sich abspielte, und durch die nur manchmal erlösende Blitze von
Geist und von Selbsterkenntnis zuckten. Was hatte er mit diesen Leuten zu
tun? Eine Art von Grauen erfaßte ihn, er wandte sich ab und entschloß sich,
statt ins Kaffeehaus zu gehen, endlich wieder einmal den Klub aufzusuchen,
dessen Räume er seit Monaten nicht betreten hatte. Es waren nur wenige
Schritte bis dahin. Bald stieg Georg die breite Marmortreppe hinauf, begab
sich in den kleinen Speisesaal mit den lichtgrünen Vorhängen und wurde von
Ralph Skelton, dem Attaché der englischen Botschaft, und Doktor von
Breitner, die in einer Ecke beim Souper saßen, als ein lang Vermißter mit
gedämpfter Herzlichkeit begrüßt. Man sprach von dem Turnier, das
bevorstand, von dem Bankett, das zu Ehren der ausländischen Fechtmeister
veranstaltet werden sollte; plauderte über die neue Operette am Wiedner
Theater, in der Fräulein Lovan als Bajadere beinahe nackt aufgetreten war,
und über das Duell des Fabrikanten Heidenfeld mit dem Leutnant Novotny, in
dem der beleidigte Ehemann gefallen war. Nach dem Essen spielte Georg mit
Skelton eine Partie Billard und gewann. Er fühlte sich immer behaglicher und
nahm sich vor, von nun an wieder öfters diese luftigen und hübsch
ausgestatteten Räume zu besuchen, in denen angenehme, gut angezogene
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik