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bestätigte: »Bellissima vista«. Aber vor der schönen Aussicht lag es wie
dunkle Schleier. »Mutter«, murmelte er, und noch einmal: »Mutter«… meinte
aber zu seiner eigenen Verwunderung nicht mehr die längst Begrabene, die
ihn geboren; jener andern galt das Wort, die noch nicht Mutter war und die es
in wenigen Monaten werden sollte… eines Kindes Mutter, von dem er der
Vater war. Und nun klang das Wort plötzlich, als tönte etwas nie Gehörtes, nie
Verstandenes, als schwängen geheimnisvoll singende Glocken in
Zukunftsferne mit. Und Georg schämte sich, daß er allein hier herauf
gekommen war, sich gleichsam hergestohlen hatte. Nun durfte er Anna nicht
einmal erzählen, daß er hier gewesen.
Am nächsten Morgen fuhren sie nach Rom. Und während Georg von Tag
zu Tag sich heimischer, genußfähiger, frischer fühlte, begann Anna immer
häufiger an schwerer Müdigkeit zu leiden. Oft blieb sie allein im Hotel
zurück, während er in den Straßen herumschweifte, den Vatikan
durchwanderte, auf Forum und Palatin sich erging. Sie hielt ihn nie zurück,
aber doch fühlte er sich bemüßigt, sie zu trösten, ehe er fort ging, und pflegte
zu sagen: »Nun, das sparst du dir für ein anderes Mal auf, hoffentlich
kommen wir bald wieder her.« Da lächelte sie in ihrer verschmitzten Art, als
zweifelte sie gar nicht mehr daran, daß sie einmal seine Frau sein würde; und
er selbst mußte sich gestehen, daß er diesen Ausgang nicht mehr für
unmöglich hielt. Denn daß sie in diesem Herbst auseinandergehen sollten, mit
einem Abschied für immer, das war ihm allmählich fast unfaßbar geworden.
Doch sprachen sie in dieser Zeit nie mit klaren Worten von einer ferneren
Zukunft. Er hatte Scheu davor und sie fühlte, daß sie gut daran täte, diese
Scheu nicht aufzustören. Und gerade während dieser römischen Tage, in
denen er oft stundenlang allein in der fremden Stadt umherspazierte, fühlte er,
wie er Anna zuweilen in einer ihm nicht unangenehmen Weise entglitt. Eines
Abends war er bis zur anbrechenden Dunkelheit zwischen den Trümmern der
Kaiserpaläste umhergewandert, und von der Höhe des palatinischen Hügels,
mit dem stolzen Entzücken des Einsamen, hatte er die Sonne in der
Campagna versinken sehen. Dann hatte er sich eine Weile spazieren fahren
lassen, längs der antiken Stadtmauer auf den Monte Pincio, und als er in
seiner Wagenecke lehnend, über die Dächer hinweg den Blick zur
Peterskuppel schweifen ließ, glaubte er, tief ergriffen, nun die erhabenste
Stunde dieser ganzen Reise zu erleben. Erst spät kam er ins Hotel zurück,
fand Anna am Fenster stehen, verweint, blaß, mit roten Flecken auf den
gedunsenen Wangen. Seit zwei Stunden verging sie vor Angst, hatte sich
eingebildet, daß er verunglückt, überfallen, umgebracht worden sei. Er
beruhigte sie, fand aber nicht die herzlichen Worte, nach denen sie verlangte,
da er sich in unwürdiger Weise gebunden und unfrei vorkam. Sie fühlte seine
Kälte, gab ihm zu verstehen, daß er sie nicht genug liebte; er antwortete
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik