Page - 160 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 160 -
Text of the Page - 160 -
gekränkt, geärgert oder auch nur unsicher gegenüberstände, eine solche
Auffassung mit Entschiedenheit abzulehnen. Er selbst freute sich auf den
Abend, der ihm bevorstand, nach den vielen Wochen, die er ausschließlich in
Annas Gesellschaft verbracht hatte. Beinahe spürte er ein wenig Neid auf
Demeter, der sich nun auf einer so sorgenlosen Vergnügungsreise befand, in
der Art wie er selbst sie im vorigen Jahr mit Grace gemacht hatte. Dazu kam,
daß ihm Therese besser gefallen hatte als je. So vielen schönen Frauen er im
Laufe der letzten Monate begegnet war, noch niemals, trotzdem Anna an
weiblicher Anmut immer mehr verlor, war er in ernste Versuchung geraten.
Heute zum erstenmal wieder fühlte er Sehnsucht nach neuen Umarmungen.
Bald sah er durch die Gitterstäbe des Balkons das hellblaue Morgenkleid
Annas schimmern. Georg pfiff, nach gewohnter Art sich anzukündigen, die
ersten Takte der Beethovenschen fünften Symphonie, und gleich erschien
über dem Geländer das blasse, sanfte Gesicht der Geliebten, und ihre großen
Augen begrüßten ihn lächelnd. Er hielt das Päckchen Briefe in die Höhe, sie
nickte befriedigt, dann eilte er rasch hinauf in ihr Zimmer auf den Balkon. Sie
lehnte in einem Strohsessel vor dem Tischchen mit der grünlichen
Schutzdecke, auf dem sie eine Handarbeit liegen hatte, so wie es beinahe
immer der Fall war, wenn Georg von seinem Morgenspaziergang nach Hause
kam. Er küßte sie auf die Stirn und auf den Mund. »Also was glaubst du, wem
ich begegnet bin?« fragte er hastig.
»Else Ehrenberg«, antwortete Anna, ohne Besinnen.
»Wie kommst du drauf? Wie sollte die hierher geraten?«
»Nun«, sagte Anna pfiffig, »man könnte dir ja nachgereist sein.«
»Man könnte, aber man ist es nicht. Also rat weiter. Dreimal darfst du.«
»Heinrich Bermann.«
»Aber keine Idee. Von dem ist übrigens ein Brief da. Also weiter.«
Sie dachte nach. »Demeter Stanzides«, sagte sie dann.
»Wie, weißt du am Ende etwas?«
»Was soll ich denn wissen? Ist er wirklich da?«
»Donnerwetter du wirst ja ganz rot, o!« Er kannte ihre Schwärmerei für
Demeters melancholische Kavaliersschönheit, fühlte aber keine Spur von
Eifersucht.
»Also ist es Stanzides?« fragte sie.
»Ja, allerdings ist es Stanzides.«
»Daran kann ich aber mit dem besten Willen nichts Merkwürdiges finden.«
160
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik