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ist die wahrhaft tragikomische Mittelpunktsfigur, die mir noch gefehlt hat.«
Der innere Widerstand Georgs wuchs. Er bekam große Lust, den alten
Bermann gegen seinen Sohn in Schutz zu nehmen. »Tragikomische Figur?«
wiederholte er fast feindselig.
»Ja«, entgegnete Heinrich bestimmt. »Ein Jude, der sein Vaterland liebt…
ich meine, so wie mein Vater es getan, mit Solidaritätsgefühlen, mit
dynastischer Begeisterung, ist unbedingt eine tragikomische Figur. Das
heißt… er war es zu jener liberalisierenden Epoche der siebziger und
achtziger Jahre, da auch kluge Menschen dem Phrasentaumel der Zeit
unterlegen sind. Heute wäre ja ein solcher Mensch allerdings ausschließlich
komisch. Ja, selbst wenn er sich endlich am erstbesten Nagel aufhinge, ich
könnte sein Schicksal nicht anders empfinden.«
»Es ist eine Manie von Ihnen«, erwiderte Georg. »Man hat wirklich
manchmal den Eindruck, daß Sie überhaupt nicht mehr imstande sind, etwas
anderes in der Welt zu sehen als immer und überall die Judenfrage. Wenn ich
so unhöflich wäre, als es Ihnen zuweilen zu sein passiert, so würde ich Sie…
Sie verzeihen schon, verfolgungswahnsinnig nennen.«
»Verfolgungswahnsinnig«… , wiederholte Heinrich tonlos und sah an die
Wand. »So, also Verfolgungswahnsinn nennen Sie das… Na!« Und plötzlich
mit zusammengepreßten Zähnen, heftig, fuhr er fort: »Ich will Sie einmal was
fragen, Georg, aufs Gewissen fragen.«
»Ich höre.«
Er stellte sich gerade vor Georg hin und bohrte ihm seine Augen in die
Stirn: »Glauben Sie, daß es einen Christen auf Erden gibt, und wäre es der
edelste, gerechteste und treueste, einen einzigen, der nicht in irgendeinem
Augenblick des Grolls, des Unmuts, des Zorns selbst gegen seinen besten
Freund, gegen seine Geliebte, gegen seine Frau, wenn sie Juden oder
jüdischer Abkunft waren, deren Judentum, innerlich wenigstens, ausgespielt
hätte?« Und ohne Georgs Antwort abzuwarten: »Keinen gibt es, ich
versichere Sie. Sie können übrigens auch einen andern Versuch machen.
Lesen Sie z. B. die Briefe von irgendwelchen berühmten, sonst ganz klugen
und vortrefflichen Menschen, und beachten Sie die Stellen mit feindlichen
und ironischen Äußerungen über Zeitgenossen. Neunundneunzigmal handelt
es sich um ein Individuum ohne Berücksichtigung der Abstammung oder
Konfession, im hundertsten Fall, wo das übelbehandelte Menschenkind das
Unglück hat, Jude zu sein, vergißt der Verfasser gewiß nicht, diese Tatsache
zu erwähnen. So ist es nun einmal, ich kann Ihnen nicht helfen. Was Sie
Verfolgungswahnsinn zu nennen belieben, lieber Georg, das ist eben in
Wahrheit nichts anderes als ein ununterbrochen waches, sehr intensives
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik