Page - 210 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 210 -
Text of the Page - 210 -
blieb dort noch eine Weile stehen und sah ihnen nach, bis sie auf der Höhe
waren, wo der Sommerhaidenweg anfing.
Die kleine Ortschaft im Talgrund floß im Mondenschein dahin. Die Hügel
standen fahl, wie dünne Wände. Der Wald atmete Dunkelheit. In der Ferne
glitzerten tausend Lichter aus dem Nachtsommerdunst der Stadt. Schweigend
gingen Heinrich und Georg nebeneinander her, und Fremdheit stieg zwischen
ihnen auf. Georg erinnerte sich jenes Spaziergangs durch den Prater im
vorigen Herbst, da ein erstes, beinahe vertrautes Gespräch sie einander
genähert hatte. Wie viele waren seither gefolgt! Aber waren sie nicht alle wie
in die Luft geweht? Auch heute noch nicht konnte Georg mit Heinrich
wortlos durch die Nacht wandeln wie früher so manchmal mit Guido, mit
Labinski auch, ohne sich innerlich von ihm fort zu verlieren. Das Schweigen
wurde ihm drückend. Er begann, weil das ihm eben zuerst einfiel, von dem
alten Stauber und pries dessen Verläßlichkeit und Vielseitigkeit. Heinrich war
nicht für ihn eingenommen, fand ihn ein wenig berauscht von der eigenen
Güte, Weisheit und Tüchtigkeit. Das war auch eine Sorte Juden, die er nicht
leiden mochte: die mit sich einverstandenen. Sie kamen auf den jungen
Stauber zu reden, dessen Schwanken zwischen Politik und Wissenschaft für
Heinrich etwas sehr Anziehendes zu haben schien. Von da aus gerieten sie in
eine Unterhaltung über die Zusammensetzung des Parlaments, über die
Zänkereien zwischen Deutschen und Tschechen, über die Angriffe der
Klerikalen gegen den Unterrichtsminister. Sie redeten mit so angestrengter
Beflissenheit, wie man nur über Dinge zu sprechen pflegt, die einem im
Grunde der Seele völlig gleichgültig sind. Endlich debattierten sie darüber, ob
der Minister nach der zweifelhaften Rolle, die er in der Frage der Zivilehe
gespielt, im Amte bleiben durfte oder nicht; und wußten am Ende nicht mehr
recht, wer von ihnen beiden sich für, und wer sich gegen die Demission
ausgesprochen hatte. Sie gingen längs des Friedhofs hin. Über die Mauer
ragten Kreuze und Grabsteine und schwammen im Mondenschein. Der Weg
senkte sich nach abwärts zur Straße. Sie eilten beide, um die letzte
Pferdebahn zu erreichen, und, auf der Plattform stehend, in schwüler,
dunstiger Nachtluft rollten sie der Stadt zu. Georg erklärte, daß er den ersten
Teil seiner Reise zu Rad zu unternehmen gedächte. Und einem plötzlichen
Einfall folgend, fragte er Heinrich, ob er nicht mit von der Partie sein wollte.
Heinrich war einverstanden und nach wenigen Minuten begeistert. Beim
Schottentor stiegen sie aus, suchten ein nahes Café auf und bestimmten in
einer ausführlichen Unterredung mit Zuhilfenahme von Spezialkarten, die sie
in Lexikonbänden fanden, alle möglichen Reiselinien. Als sie sich
voneinander verabschiedeten, stand der Plan zwar noch nicht ganz fest, aber
sie wußten schon, daß sie übermorgen früh miteinander Wien verlassen und in
Lambach ihre Räder besteigen würden.
210
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik