Page - 224 - in Der Weg ins Freie
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nun bald zur Welt kommen sollte, mit Zärtlichkeit und Voraussicht; doch
niemals über ihre eigene, nächste und fernere Zukunft. Aber wenn er an ihrem
Bette saß, oder Arm in Arm mit ihr im Garten auf und abging, oder an ihrer
Seite auf der weißen Bank unter dem Birnbaum saß, wo die leuchtende Stille
der Spätsommertage über ihnen ruhte, da wußte er, daß sie nun für alle Zeit
fest aneinandergeschlossen waren, und daß selbst die zeitweilige Trennung,
die bevorstand, gegenüber dem sichern Gefühl dieser Zusammengehörigkeit
keine Macht mehr über sie haben könnte.
Erst seit die Schmerzen über sie gekommen waren, schien sie ihm entrückt,
wohin er ihr nicht folgen konnte. Gestern noch war er stundenlang an ihrem
Bett gesessen und hatte ihre Hände in den seinen gehalten. Sie war geduldig
gewesen wie immer, hatte sich sorglich erkundigt, ob er nur seine Ordnung im
Hause habe, hatte ihn gebeten zu arbeiten, spazieren zu gehen wie bisher, da
er ihr ja doch nicht helfen könnte, und ihn versichert, daß sie ihn noch mehr
liebe, seit sie leide. Und doch, Georg fühlte es, sie war in diesen Tagen nicht
dieselbe, die sie gewesen. Besonders wenn sie aufschrie – so wie heute
Vormittag in den schlimmsten Schmerzen –, da war ihre Seele so weit weg
von ihm, daß ihn schauerte.
Er war dem Hause wieder nah. Aus Annas Zimmer, vor dessen Fenster die
Vorhänge sich leise bewegten, kam kein Laut. Der alte Doktor Stauber stand
auf der Veranda. Georg eilte hin, mit trockener Kehle. »Was ist?« fragte er
hastig.
Doktor Stauber legte ihm die Hand auf die Schulter: »Es geht ganz gut.«
Ein Stöhnen kam von drin, wurde lauter, wurde ein wilder, wütender Schrei.
Georg strich sich über die feuchte Stirn, und mit bitterm Lächeln sagte er zum
Doktor: »Das heißen Sie, es geht ganz gut?«
Stauber zuckte die Achseln: »Es steht geschrieben, mit Schmerzen sollst
du… «
In Georg lehnte sich etwas auf. Er hatte nie an den Gott der Kindlich-
Frommen geglaubt, der als Erfüller armseliger Menschenwünsche, als Rächer
und Verzeiher kläglicher Menschensünden sich offenbaren sollte. Dem
Unnennbaren, das er jenseits seiner Sinne und über allem Verstehen im
Unendlichen ahnte, konnte Beten und Lästern nichts anderes sein, als arme
Worte aus Menschenmund. Nicht als die Mutter nach unsinnig-martervollem
Leid, nicht, als in einem für sein Begreifen schmerzenlosen Hingang der Vater
starb, hatte er sich des Glaubens vermessen, daß sein Unglück im Weltenlauf
mehr bedeutete, als das Fallen eines Blattes. Keinem unerforschlichen
Ratschluß hatte er in feiger Demut sich gebeugt, nicht töricht gemurrt gegen
ein ungnädiges, gerade über ihn verhängtes Walten. Heute zum erstenmal war
ihm, als ginge irgendwo in den Wolken ein unbegreifliches Spiel um seine
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik