Page - 244 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 244 -
Text of the Page - 244 -
die Alte einfach, ob sie Nachricht hat… Was sagen Sie… wie schwül diese
Nacht ist?«
Sie fuhren ĂĽber den Ring, durch den hallenden Burghof, durch die StraĂźen
der Stadt. Georg war eigentĂĽmlich gespannt. Wenn die Schauspielerin nun
wirklich ruhig bei ihrer Mutter zu Hause säße, dachte er. Er fühlte, daß es eine
Art Enttäuschung für ihn bedeuten würde. Dann schämte er sich dieser
Regung. Ist denn die ganze Geschichte eine Zerstreuung fĂĽr mich, dachte er.
Was den andern Leuten passiert… ist uns wohl selten mehr, würde
Nürnberger finden… Eine seltsame Art sich zu zerstreuen, um den Tod seines
Kindes zu vergessen… Aber was soll man tun?… Ändern kann ich nichts
mehr. In ein paar Tagen reis’ ich fort. Gott sei Dank.
Der Wagen hielt vor einem Hause in der Nähe des Pratersterns. Über den
Viadukt gegenüber dröhnte eben ein Zug, darunter weg liefen die Alleen des
Praters ins Dunkle. Heinrich schickte den Wagen fort. »Ich danke Ihnen
sehr«, sagte er zu Georg. »Leben Sie wohl.«
»Ich warte hier auf Sie.«
»Wollen Sie wirklich? Nun, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Er verschwand im Haustor. Georg ging auf und ab. Rings herum auf den
Straßen war es trotz der späten Stunde noch ziemlich belebt. Aus dem Prater
drangen die Klänge eines Militärorchesters zu ihm her. Ein Mann und eine
Frau kamen an ihm vorbei. Der Mann trug ein schlafendes Kind auf dem
Arm, das die Hände um den Hals des Vaters geschlungen hatte. Georg dachte
an den Grinzinger Garten, an das kleine, ungewaschene Ding, das ihm von
den Armen der Mutter aus die Händchen entgegengestreckt hatte. War er
damals wirklich gerĂĽhrt gewesen, wie NĂĽrnberger behauptet hatte? Nein,
RĂĽhrung war es wohl nicht. Etwas anderes vielleicht. Das dumpfe
BewuĂźtsein, dazustehen in der geschlossenen Kette, die von Urahnen zu
Urenkeln ging, an beiden Händen gefaßt, mit teilzuhaben am allgemeinen
Menschenlos. Nun stand er mit einemmal wieder losgelöst, allein… wie
verschmäht von einem Wunder, dessen Ruf er ohne Andacht gehört hatte. Von
einem nahen Kirchturm schlug es zehn Uhr. FĂĽnf Stunden erst, dachte Georg.
Und wie ferne war schon alles. Nun durfte er wieder frei durch die Welt
treiben, wie früher einmal… Durfte er wirklich?
Heinrich kam aus dem Haustor. Hinter ihm fiel das Tor zu. »Nichts«, sagte
er. »Ganz ahnungslos ist die Mutter. Ich habe nach der Adresse gefragt, als
wenn ich ihr was Wichtiges mitzuteilen hätte. Ich wäre gerade aus dem Prater
gekommen, und da fiel mir ein… na und so weiter. Eine gute, alte Frau. Der
Bruder sitzt am Tisch und zeichnet auf einem ReiĂźbrett eine Ritterburg mit
unzähligen Türmen aus einer illustrierten Zeitung ab.«
244
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik