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Der Anfang der Wandlung Israels 245
seits der Steigung nur neue HĂĽgel, neue Berge, neue Kurven sehen lieĂźen. Farbig glit-
zerten die terrassenzerfurchten Bergrücken, rot leuchteten Lössböden zwischen grauen
und gelben Felsen. Vereinzelte staubgrüne Feigenbäume senkten riesige verkrümmte
Äste zur Erde, tauchten sie in das erstickende Weiß des Straßenstaubs, den die vorbei-
fliegenden Automobile über ihre Blätter fegten. Tief unten im Tale des Wildbachs rag-
ten ein paar Zypressen, ein paar Ölbäume, als letzte Enkel alter Gärten oder erste, zag-
hafte Pioniere neuer Wirtschaft. Menschenleer wie eine Wüste war noch die nächste
Umgebung der hochgebauten Stadt. Menschenleer. Einwanderer brauchen wir. Es ist
Platz. Einwanderer …
Noch eine Biegung der StraĂźe. Und noch eine. Am Rand des Abgrunds klebenÂ
– wie
Nester riesiger VögelÂ
– die flachen Dächer der Häuser des Dorfes Lifta, das den Zugang
zu Jerusalem bewacht. Auf den Dächern, ein paar Meter unter der Böschungsmauer, sit-
zen Araber und rauchen aus Wasserpfeifen, während der Staub des ratternden Motors
sich über sie legt. Eldad beugt sich aus dem Automobil heraus, späht in das Tal hinunter,
sieht drüben die Häuser wieder hügelan klettern – eine Kette rund um das jüdische
Jerusalem.
Weit drĂĽben, am klaren Horizont, mit messerscharfen Linien vom Himmelsblau ab-
gesetzt, hebt sich der hohe Bergrücken des »Nebi Samuel« mit der hellen, weißen Nadel
des schlanken, kleinen Minaretts. Eldad schätzt prüfend die Distanz : 4000, vielleicht
5000 Meter Luftlinie – denkt er. Dort war das alte Gibeon, dort stritt und siegte Jo-
sua, dort sang er in seinem UngestĂĽm das herrliche Lied an die Sonne und den Mond.
»Stehet still zu Ajalon und Gibeon, bis Israel seine Feinde zerschmettert hat … !«125
Dort lagerte das Heiligtum von MizpaÂ
– und heute hat kein Jude daran gedacht, dieses
Bollwerk Jerusalems zu erwerben. Kein StĂĽck Boden wurde dort gekauft, keine Kolonie
gegrĂĽndet, kein Haus erbaut, dort wo eine Kanone, ja sogar ein Maschinengewehr ge-
nĂĽgen wĂĽrde, um Jerusalems Zugang zu beherrschen.
Die Araber sitzen im Tale von Lifta, und die Araber sitzen auf der Höhe von Gi-
beonÂ
– und wir Juden sprechen von Kultur und von sozialen Theorien und von Erlösung
des Bodens und lassen die nächsten Höhen und Täler unserer Hauptstadt in der Hand
unserer Feinde von morgen. 900 Meter hoch ist der Nebi Samuel, 4000 Meter entfernt,
um 100 Meter höher als die Stadt … ich muss darüber mit Ussishkin sprechen, man
muss dort Boden kaufen, man muss …«, arbeitete es im Kopf und im Herzen Eldads,
während unvermutet, plötzlich die ersten armseligen Steinhäuser des jüdischen Jerusa-
125 Siehe Josua 10,12Â
f.: »Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon ! Da stand die Sonne
und der Mond still, bis dass sich das Volk an ihren Feinden rächte.« Vgl. das vier Jahre vor der
Erzählzeit des Romans, 1916, mitten im Weltkrieg, von dem radikalen Wiener Antizionisten Karl
Kraus verfasste pazifistische Gegengedicht Gebet an die Sonne von Gibeon.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355