Seite - 1071 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Band 3 : PO - Ž
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Prežihov Voranc
die, nach der → Volksabstimmung von der Nation ge-
trennt, zu einer Minderheit geworden waren und deren
Zahl sich stetig verringerte. P. beschreibt die Dörfer um
den Wörthersee/Vrbsko jezero, die damals noch slowe-
nisch waren und wo Slowenen lebten. Die Erzählung
ist keine Reisebeschreibung und auch keine Reportage,
sie ist ein Sprachkunstwerk, das, wie in einem Roman,
eine große Anzahl von Protagonisten aufweist. Wäh-
rend er die Landschaft beschreibt, macht er historische
Exkurse in legendäre Zeiten, in die Römerzeit, in das
unabhängige slowenische Fürstentum → Karantanien
usw. (→ Kulturlandschaft). Zunächst personifiziert P.
den Wörthersee/Vrbsko jezero und die Natur, die zu
Protagonisten werden. Der Klang der Glocken einer
im See versunkenen Stadt wird zum Symbol für die le-
bendige slowenische Sprache. Je mehr die Stadt im See
verschwindet, umso leiser klingen die Glocken. Die ver-
sunkene Stadt aber wird zum Symbol für das verlorene
Kärnten/Koroška. P. benützt symbolistische Stilmittel
(vgl. Ivan → Cankar), indem er die Tonalität der slo-
wenischen Sprache einsetzt, die Antithese verwendet
und der Schönheit der Landschaft die moderne deut-
sche Technologie entgegensetzt. In derselben Weise
benützt P. die Antonomasie, wenn er verschiedene his-
torische und zeitgenössische Familiennamen aufzählt,
die in ihrer Gesamtheit die Slowenen symbolisieren. In
diesem Text erreicht P. höchstes künstlerisches Niveau
mittels stilistischer Synkretismen. Durch Verkürzung
und Verknüpfung symbolistischer und realistischer
Stilmittel lässt er ein verwunschenes Kärnten/Koroška
in seiner ganzen Schönheit erstehen : Den Stolz, die
Verzweiflung, die Vitalität und Resignation der Kärnt-
ner Slowenen ; den Zynismus, die Militanz und den
Opportunismus der deutschnationalen Institutionen
(→ Deutschnationale Vereine). P. schuf eine visionäre
Erzählung für die damaligen Zeiten : die Glocken der
versunkenen Stadt sind in diesen Gegenden zum gro-
ßen Teil verstummt. Ein visionärer Text auch für heute,
da die Glocken, die noch zu P.s Zeiten klangen, nicht
mehr zu hören sind.
Die zweite Erzählung mit Kärnten/Koroška als li-
terarischem Ort trägt den Titel Goposvetsko polje [Das
Maria Saaler Feld/Das →
Zollfeld]. Sie besteht aus
zwei chronologisch getrennten Teilen : Im Jahre 1912
suchte ein armer Bauernjunge aus der → Mežiška do-
lina (Mießtal) sein Glück in der Fremde. Ohne einen
Kreuzer verdient zu haben, kommt er im Spätherbst
nach Klagenfurt/Celovec, wo er sich den Bettlern, Va-
gabunden und anderen sozial Ausgegrenzten anschließt und den Winter mit ihnen tagsüber in den »Wärmestu-
ben« und nachts in Pferdeställen verbringt. Als diese
bunte Gesellschaft sich im Frühjahr wieder zu ihrem
»freien« Leben auf der Straße aufmacht, ist er zunächst
versucht, sich ihr anzuschließen, doch seine Vorstellun-
gen von der Menschenwürde sind stärker. Der Versuch,
in einem Betrieb in Klagenfurt/Celovec Arbeit zu be-
kommen, scheitert daran, dass er Slowene ist. Diese
neuerliche Erniedrigung lässt ihn die Stadt verlassen
und Zuflucht in der Natur zu suchen. Er wandert auf
das Maria Saaler (Zoll-)Feld/Goposvetsko polje, einen
historisch bedeutenden Ort für die Slowenen ; er erin-
nert sich, dass hier die Vorfahren ihre Fürsten gewählt
hatten. Die erlebte Schönheit und der historische Zau-
ber, den sie ausstrahlt, geben ihm die Kraft, auch ohne
Geld nach Hause zurückzukehren.
Der zweite Teil der Erzählung handelt 20 Jahre später
im Jahre 1930 und hat zwei Abschnitte. Nachdem 1929
die Kommunisten in → Jugoslawien durch das könig-
liche Militärregime verboten und in der Folge verfolgt
worden waren, musste der Protagonist nach Österreich
fliehen. Zu Weihnachten 1930 will ihn seine Frau mit
den beiden Töchtern in Klagenfurt/Celovec besuchen.
Da sie als Frau eines geflüchteten Kommunisten von
den Behörden keinen Reisepass erhält, besteht sie auf
ihrem Menschenrecht und beschließt, illegal zu Fuß
aus Črna nach → Eisenkappel/Železna Kapla zu gehen.
Geschildert wird der 14-stündige Marsch der Mutter
und ihrer 6- und 8-jährigen Mädchen durch tiefen
Schnee über die Berge. Die Kritiker sahen in der Fi-
gur der Mutter vor allem die opferbereite Gattin und
aufopferungsvolle Mutter. Doch es wird bei näherer
Analyse klar, dass es dem Autor darum ging, die Frau
und die Kinder als individuelle, geistig unabhängige, mit
eigenem Willen und eigenem Ziel ausgestattete Per-
sönlichkeiten herauszuarbeiten. Es ist keine leidende
Mutter, auch wenn Frost, Erschöpfung usw. sie quälen,
die Mädchen sind keine leidenden Kinder, auch wenn
die Umstände grausam sind : Sie sind individuelle Per-
sönlichkeiten, die sich bewusst der ungerechten Macht
entgegenstellen und so das höchste Niveau an Men-
schenwürde erreichen. Die perfektiven Verba und die
Dialoge, die der Autor verwendet, zeigen klar, dass alle
drei Protagonistinnen aus eigenem Willen und aus eige-
ner Entscheidung handeln. Ihre Ankunft erleben sie als
Triumph. In Klagenfurt/Celovec kommt es zu keinem
Treffen, da der Gatte und Vater kurz davor verhaftet
wird. Danach beschreibt der Protagonist in Ich-Form
Erlebnisse im Gefängnis bis zur gelungenen Flucht. Der
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 3 : PO - Ž
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 3 : PO - Ž
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 566
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Lemmata Band 3 Po–Ž 1049
- Verzeichnis aller AutorInnen/BeiträgerInnen und ihrer jeweiligen Lemmata 1571
- Verzeichnis aller ÜbersetzerInnen und die von ihnen übersetzten Lemmata 1577
- Verzeichnis der BeiträgerInnen von Bildmaterial 1579
- Verzeichnis der Abbildungen 1580
- Synopsis (deutsch/English/slovensko) 1599
- Biographien der Herausgeber 1602