Seite - 1163 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Band 3 : PO - Ž
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Santonino, Paolo
Santonino, Paolo (Santoninus, Sanctoninus, de Sanc-
toninis, Pavel, * um 1440 Stroncone (Umbrien), † zw.
1507 und 1510 Udine), Jurist, Kanzler des Patriarchen
von Aquileia, humanistischer Reiseschriftsteller.
Aller Wahrscheinlichkeit nach kam S. 1468 als
Schützling des Bischofs Andrea di Ferentino nach
Friaul (it. Friuli, friul. Friûl, slow. Furlanija). Er war Jurist
und arbeitete als Notar und Privatsekretär des Geistli-
chen. 1469 stieg er zum Kanzler des Vikariats Udine
(friul. Udin, slow. Videm) auf. Aufgrund seiner großen
Kompetenzen brachten ihm die Patriarchen Kardinal
Marco Barbo (1471–1491) sowie dessen Nachfolger
Ermolao Barbaro (1491–1494) viel Sympathie entge-
gen, so dass er 1491 zum alleinigen Kanzler des Vika-
riats von Udine ernannt wurde. Man beauftragte S. Bi-
schof Pietro Carlo di Caorle auf seinen Visitationen
in die Kirchensprengel von → Aquileia zu begleiten,
die im habsburgischen Herrschaftsgebiet lagen. Über
Jahrzehnte hinweg war es den geistigen Würdenträgern
wegen der drohenden Gefahr durch Türkeneinfälle
verwehrt geblieben, ihr Amt am Nordrand der Diözese
Aquileia (jenseits der Drau/Drava) auszuführen. Jetzt
wurden sie geschickt, um versäumte Firmungen sowie
Konsekrationen nachzuholen, aber auch um ein Vor-
anschreiten des notorischen moralischen Verfalls der
Geistlichkeit vor Ort zu unterbinden. Insgesamt wur-
den drei Reisen unternommen, auf denen S. zu privaten
Zwecken ein ausführliches, detailreiches Reisetagebuch
verfasste. Sein dreiteiliges, auf Latein verfasstes Opus
Itinerarium [Itinerar] (1485–1487) stellt das älteste
Zeitdokument des slowenischen ethnischen Gebiets
gegen Ende des Mittelalters dar, das ein einzigartiges
Bild von Städten, geografischen Besonderheiten, Pfar-
ren, Geistlichen, kirchlichen Amtshandlungen, histori-
schen Persönlichkeiten, Gewändern, Speisen, sozialen
Gepflogenheiten und vom kulturellen Leben in den
bereisten, überwiegend slowenischen Regionen abgab.
Spezielle kulturologische Informationen erhalten wir
über Kärnten/Koroška, da sich die Reisetruppe hier
am längsten aufgehalten hatte. Zur ethnischen Situa-
tion etwa bemerkte S., dass von der Pfarre St. Daniel
im Gailtal (heute Dekanat Kötschach [Koče]) bis nach
→
Villach/Beljak Deutsche und Slowenen nebenein-
ander lebten und dass die zwei Völker jeweils die Spra-
che des anderen beherrschten : A plebe S. Danielis vallis
Gille infra usque Villacum, admixti sunt sclavi alemanis et
utraque natio, utrumque idioma callet (→ Sprachgrenze,
→
Ortsverzeichnis 1860). Darüber hinaus sind S.s
Schilderungen von musikalischen Darbietungen, Inst- rumenten, Gesang und Tanz beispielsweise trotz ihrer
terminologischen Unbestimmtheit eine seltene und
eminente historische Quelle zur slowenischen Musik-
kultur im Spätmittelalter.
Auf der ersten Reise 1485 durchkreuzten die Kund-
schafter Osttirol, das → Gailtal/Ziljska dolina (Her-
magor/Šmohor, Kötschach-Mauthen [Koče-Muta])
und das obere Drautal (zgornja Dravska dolina). Die
zweite Reise führte 1486 über das Küstenland/Lito-
rale/Primorje in die Gorenjska (Oberkrain) (Škofja
Loka, Tržič) sowie über den Loiblpass/Ljubelj nach
Kärnten/Koroška (Kappel an der Drau/Kapla ob Dravi,
Rosegg/Rožek, → Villach/Beljak, Faaker See/Baško
jezero, →
Arnoldstein/Podklošter, St. Stefan an der
Gail/Štefan na Zilji, Finkenstein/Bekštanj). Die dritte
Reise im Jahr 1487 ging in die Steiermark/Štajerska
(Ptujska Gora, Studenice, Rogatec, Slovenske Konjice)
und über Kärnten/Koroška zurück nach Friaul/Friuli/
Friûl. Obwohl der soziopolitische historische Kontext
im Reisebericht eher in den Hintergrund tritt, offen-
bart sich darin ein Sittenbild jener Tage. S. bewegte sich
in wohlhabenderen, adeligen und kirchlichen Kreisen
und reflektierte nur vereinzelt über die sozialen Prob-
leme eines Landes, das durch die Pest sowie zahlreiche
Türkeneinfälle devastiert worden war, was zur Verar-
mung der breiten ländlichen Bevölkerungsschicht und
in weiterer Folge zu → Bauernaufständen geführt hatte.
Dem Sittenverfall in der Kirche und der Weltlichkeit
der Kleriker hingegen, die sich von jungen Wirtschaf-
terinnen und deren Mägden bedienen ließen, stand er
kritisch gegenüber. Diese Missstände waren ein Vorzei-
chen für die Reformationsbewegung, die nur vier Jahr-
zehnte später einsetzte. Weiters erfahren wir von den
Verhältnissen um den Krieg zwischen Kaiser Fried-
rich III. und dem ungarischen König Matthias
Corvinus (→ kralj Matjaž), sowie um den Konflikt
zwischen dem Patriarchen von Aquileia, dem Kaiser
und den Grafen von Görz um die Patronate, welche
jene von den → Grafen von Cilli geerbt hatten. Der
kulturelle Mehrwert der facettenreichen Aufzeichnun-
gen spiegelt sich außerdem im vorbehaltlosen Diskurs
einer eloquenten, humanistisch-juristisch geprägten
Persönlichkeit wider, die den angetroffenen Kulturen
mit Aufgeschlossenheit begegnete, obwohl zwischen
jenen und der italienischen Renaissance-Gesellschaft
ein Kulturgefälle bestand. 1549 ist das Itinerarium in
die vatikanische apostolische Bibliothek gelangt. Ein-
zelne Urkunden S.s sind außerdem im Diözesanarchiv
Gurk erhalten geblieben.
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 3 : PO - Ž
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 3 : PO - Ž
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 566
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Lemmata Band 3 Po–Ž 1049
- Verzeichnis aller AutorInnen/BeiträgerInnen und ihrer jeweiligen Lemmata 1571
- Verzeichnis aller ÜbersetzerInnen und die von ihnen übersetzten Lemmata 1577
- Verzeichnis der BeiträgerInnen von Bildmaterial 1579
- Verzeichnis der Abbildungen 1580
- Synopsis (deutsch/English/slovensko) 1599
- Biographien der Herausgeber 1602