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doch untrügliche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl
damit zufrieden sein, dass meine Maxime (mich durch ein unwahres
Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl
für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es
mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Verlegenheit
befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald
inne, dass ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht
wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein
Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung
meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch
nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit
gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum
allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse.
Was ich also zu tun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche
ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des
Weltlaufs, unfähig auf alle sich ereignende Vorfälle desselben gefasst zu sein,
frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, dass deine Maxime ein
allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich und das zwar nicht
um eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen,
sondern weil sie nicht als Prinzip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung
passen kann; für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab,
von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der
Philosoph untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: dass es
eine Schätzung des Wertes sei, welcher allen Wert dessen, was durch Neigung
angepriesen wird, weit überwiegt, und dass die Notwendigkeit meiner
Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die
Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muss, weil sie
die Bedingung eines an sieh guten Willens ist, dessen Wert über alles geht.
So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen
Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt, welches sie sich zwar freilich
nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit
wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht. Es
wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Kompasse in der Hand in allen
vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut,
was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne sie im
mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes
Prinzip aufmerksam macht, und dass es also keiner Wissenschaft und
Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut,
ja sogar um weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich auch wohl schon
zum voraus vermuten, dass die Kenntnis dessen, was zu tun, mithin auch zu
wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen
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Buch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Titel
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Autor
- Immanuel Kant
- Datum
- 1785
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 70
- Schlagwörter
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70