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122 Tagebücher
lich gemischt war, welches man besonders beym souper und beym hinein-
drängen ins theater bemerkte, wo ich Julie Albani (neugebauer) beinahe
vom Erdrücken rettete; derselben begegnete beim Wegfahren noch eine
aventure; es kam nämlich gerade als sie einstieg, ein Herr die Stiege her-
abgelaufen und sagte ihr, es sey ihm sein mantel abhanden gekommen, und
sie möchte ihn nach Hause führen; sie deprecirte, da sie ihn nicht kannte, er
aber sprang mir nichts, dir nichts in den Wagen, schlug die portière zu, und
weg fuhren sie, ce qui arriva après, je l’ignore.
ein paar tage später traf ich Abends bey samoiloff den Prinzen louis
napoléon de montfort, sohn Jerôme Bonapartes, mit seinem Adjutanten
Bentivoglio, der von florenz, wo sein vater lebt, nach stuttgardt reist, da er
in würtembergischen Diensten Leutnant ist;1 es ist ein junger mensch von
19–20 Jahren, sieht aber sehr farniert aus und soll, wie die leute bezeugten,
ich aber nicht finde, Napoleon sehr ähnlich sehen; wenn man von Jemand
weiß, daß er blind ist, sagt lichtenberg, glaubt man es ihm von hinten anse-
hen zu können.2
morgen ist der erste hofball, und so fängt nach und nach der fasching
sich zu zeigen an; er ist übrigens hier nie sehr belebt und wird es heuer,
wo kein gouverneur da ist, noch weniger seyn. gestern war das erste der
kleinen sontagskränzchen [sic] bey hofe, wozu nur 10–12 tänzerinnen,
meistens mädchen von 14–15 Jahren, und 15–16 robuste tänzer auf robott
commandirt werden; ich wurde nicht geladen zum großen Ärger Gabrielle’s
und des ganzen hofes, welcher es nicht begreifen kann, da ich mehr als ir-
gend sonst Jemand in mailand berechtigt war, mir diese einladung zu er-
warten; es ist auch nichts als eine der gewöhnlichen und bekannten Capri-
cen der erzherzogin, welche gabrielle, weil sie ihr zu hübsch ist, mit ihrem
üblen Humor verfolgt; Gabrielle ist übrigens so gescheidt sich gar nichts
daraus zu machen, besonders da sie nicht um ihre Person, sondern bey den
2 töchtern ist, die die Attention und freundlichkeit selber sind, und sich
daher dieser Humor auf grimmige Gesichter beschränkt; daß sie mich nicht
einlud, sollte eine demonstration gegen Gabrielle seyn; mir war dadurch ei-
gentlich ein wahrer dienst erwiesen, denn es soll nichts ennuyanteres und
1 es muss sich um napoleon Joseph Bonaparte, Prinz von montfort, handeln, und nicht um
seinen cousin louis napoleon, den späteren kaiser napoleon iii. dafür spricht sowohl
der hinweis auf das Alter – louis napoleon war bereits 31 Jahre alt –, als auch auf titel
und dienst. napoleon Josephs 1835 verstorbene mutter war eine tochter des württem-
bergischen königs, sein vater Jêrome (wie louis napoleons vater louis ein Bruder von
napoleon i.) trug seit 1816 den titel eines herzogs von montfort.
2 der spruch stammt aus den „sudelbüchern“ von georg christoph lichtenberg: Wenn man
einmal weiß, dass einer blind ist, so meint man [man] könnte es ihm auch von hinten anse-
hen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien