Deutschland - Österreich#
Zu den sensibelsten Themen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte im politischen und gesamten Leben Österreichs die Abgrenzung von Deutschland. Diese war nicht nur eine Forderung der Besatzungsmächte nach 1945 (Besatzung 1945-1955), sondern entsprach damals auch den Wünschen der meisten politischen Willensträger und weiter Kreise der Bevölkerung. Nach den Erfahrungen des Anschlusses von 1938 und vor allem unter dem Eindruck des Kriegsendes von 1945 kam es zu einer Neuordnung dieses Verhältnisses, das durch eine jahrhundertelange historische Entwicklung vorgezeichnet war.
Das Nahverhältnis beruht auf der gemeinsamen Sprache, der vielfach identen Kultur, dem verwandten Rechtsleben, den wirtschaftlichen und persönlichen Verbindungen, die zu allen Zeiten bestanden.
Dieses Verhältnis entwickelte sich während des historischen Ablaufs recht verschieden. Die erste Epoche (10./11. Jahrhundert) wurde geprägt von der engen Verflechtung während der Entstehung der österreichischen Länder als Randgebiete deutscher Stammesherzogtümer, vorwiegend Bayerns und Schwabens, verbunden mit einer mehrschichtigen Kolonisierung. Es wird zwar immer hypothetisch bleiben müssen und nie geklärt werden können, inwieweit sich die Bevölkerung der österreichischen Länder im Hochmittelalter aus Menschen vorheriger Besiedlungsperioden von den Urzeiten über die römische Epoche, die Völkerwanderungs- und Frankenzeit zusammensetzte und wie stark sie durch neue Einwanderer bestimmt wurde. Das wird auch regional sehr verschieden gewesen sein. In manchen Gegenden war noch aus antiker Zeit Restbevölkerung vorhanden, durchmischt mit Verbliebenen der Völkerwanderung, in anderen, wie in Teilen Oberösterreichs, in Salzburg oder Tirol, war die bairische Komponente vorherrschend, in Kärnten, der Steiermark und großen Teilen von Niederösterreich gehörten auch Angehörige slawischer Völker in größerer Menge zur Urbevölkerung. Zugewandert ist der Großteil der neuen Oberschicht, aber nicht nur diese, weil sich sonst die vorwiegende Durchsetzung der deutschen Sprache bzw. bairischer Dialekte bis ins 12. Jahrhundert nicht erklären ließe. Denn erfahrungsgemäß passen sich in sprachlicher Hinsicht Oberschichten dem Volk leichter und rascher an als umgekehrt.
Die nächste Epoche (12./13. Jahrhundert) bestand in einem allmählichen Loslösen der österreichischen Länder von den Stammesherzogtümern, begünstigt durch die mehrfache Teilung Bayerns und die Auflösung des schwäbischen Herzogtums. Nun fand teilweise eine eigenständige rechtliche, wirtschaftliche und bald kulturelle Sonderentwicklung statt, doch blieb die Einbindung in das deutsche Königtum bestehen. Die aus der nordwestlichen Schweiz stammenden Habsburger kamen 1282 als Schwaben, deren Dialekt vermutlich von vielen Österreichern kaum verstanden wurde, aber in erster Linie als Herrscherfamilie ins Land, ihr Bestreben war (auch in späteren Generationen), die deutsche Königswürde, nach Möglichkeit verbunden mit dem Römischen Kaisertum, wieder zu gewinnen. Daraus entwickelte sich im 14./15. Jahrhundert im süddeutschen Raum ein herrschaftliches Dreiecksverhältnis zwischen den Habsburgern in Österreich, den Luxemburgern in Böhmen und Ungarn sowie den bayerischen Wittelsbachern. Bei allen Bestrebungen um eine individuelle Entwicklung ihrer Länder und eine Sonderstellung ihres Hauses waren die Habsburger bis zu Kaiser Franz Joseph doch stets bewusst deutsche Fürsten.
Als im 16. Jahrhundert die Reformation M. Luthers Deutschland überzog, erfasste diese Bewegung auch die österreichischen Länder, doch konnten sie die Habsburger schließlich im Rahmen der Gegenreformation abwehren. Sie waren aber auch weiterhin in den katholisch gebliebenen süddeutschen Raum eingebunden. Unter diesen Gesichtspunkten ist ihre Haltung während des Dreißigjährigen Kriegs (1618-48) zu verstehen, an dessen Ende sie von der Schwächung des Reichs durch Stärkung ihrer Souveränität als Landesfürsten profitierten. Gleichzeitig übernahm die österreichische Monarchie aber auch die Rolle des Verteidigers deutscher Interessen gegen Frankreich, oft auch gegen deutsche Fürsten, die sich, wie Bayern während des Spanischen Erbfolgekriegs, mit den Franzosen verbündeten. Die Sonderentwicklung Österreichs wurde in diesen Jahrzehnten durch politische Maßnahmen, aber auch durch zahllose wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen gemindert. Da zu den österreichischen Ländern auch die südwestdeutschen Vorlande gehörten, erfolgte von dort ein ständiger Zustrom von tüchtigen Menschen, Professionisten und Künstlern, die am Kaiserhof Chancen sahen, von Offizieren und später von studierten Beamten. Aber auch viele Auswanderer aus Südwestdeutschland erhofften sich im 18. Jahrhundert unter habsburgischem Schutz neue Chancen in Ungarn oder Galizien. Andererseits brachte die Barockzeit eine stärkere Differenzierung des deutschen Kulturraums. Nördlich von Bayern wurde Österreichs Einfluss immer geringer, die kulturellen Kontakte seltener. Auf der unteren Ebene lassen sich diese Verbindungen durch die Wanderungen der Handwerksburschen verfolgen, die selten aus dem Raum nördlich des Mains nach Österreich kamen.
Im 18. Jahrhundert brachte das Erstarken Preußens (Preußen - Österreich) und die Entstehung dieser neuen Großmacht eine politische Polarisierung, die durch mehrere Kriege sowie durch die politischen und kulturellen Beziehungen Österreichs zu Italien stärker ausgeprägt wurde. In diesen Jahrzehnten war jedoch auch die Anziehungskraft Wiens relativ groß, hervorgerufen durch die Hochzeiten von deutschen Fürstentöchtern mit habsburgischen Kaisersöhnen. Am Ende des 18. Jahrhunderts begann die Zuwanderung von jungen Unternehmern, die den großen Wirtschaftsraum der österreichischen Monarchie schätzten, so dass ein erheblicher Teil der österreichischen Industrialisierung und wirtschaftlichen Modernisierung von aus Deutschland stammenden Menschen getragen wurde.
Diese Zuwanderung setzte sich im 19. Jahrhundert vor allem aus den katholisch gebliebenen Ländern Deutschlands fort. Obwohl die Vorlande während der Napoleonischen Kriege und endgültig 1815 von Österreich gelöst wurden und die süddeutschen Staaten als Verbündete Frankreichs an Kriegen gegen Österreich teilgenommen hatten, war das Verhältnis zu diesen nur kurze Zeit belastet, besonders in Tirol (Tiroler Freiheitskampf). Im Lauf des 19. Jahrhunderts änderte sich dies wieder, weil sich die deutschsprachigen Österreicher gegenüber den anderen Nationalitäten der Monarchie als Minderheit fühlten und Rückhalt suchten. Die modernen Techniken, Bücher und Zeitungen gewannen immer stärkere Verbreitung und großen Einfluss auf die Geisteshaltung der Gebildeten. Dazu kamen praktische Erwägungen: Österreichs Autoren, die in Leipzig keinen Verleger fanden, blieben provinziell; wer dort anerkannt wurde (wie etwa P. Rosegger), fand nicht nur in die Literaturgeschichte Eingang, sondern wurde auch gelesen. Im Gegenzug wurde die Anziehungskraft der Kaiserstadt Wien größer als je zuvor, wie Ludwig von Beethoven, später Johannes Brahms oder Friedrich Hebbel als Beispiele belegen. Aber auch viele Staatsmänner, Beamte oder Offiziere kamen in den österreichischen Kaiserstaat, andererseits fanden Wissenschaftler und Künstler Österreichs in steigender Zahl in Deutschland Beachtung.
In eine neue Epoche trat das Verhältnis erst nach 1848, als im Frankfurter Parlament die Gegensätze zwischen großdeutsch und kleindeutsch zur politischer Rivalität führten: Die Österreicher, die sich als Deutsche fühlten, waren großdeutsch eingestellt, die den Preußen verbundenen Deutschen waren mehrheitlich gegen Österreich, also kleindeutsch. Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland endete 1866 in der Niederlage Österreichs bei Königgrätz und seiner Zustimmung zur Auflösung des Deutschen Bunds. Preußen schritt an die Errichtung des Deutschen Reichs, das 1871 proklamiert wurde - eine neue deutsche Einheit, aber ohne Österreich. Danach entwickelte sich in Österreich unter dem Eindruck des erwachenden Nationalitätenstreits der Völkerschaften der Monarchie ein stärkeres Bestreben, sich mit dem neuen Deutschen Reich zu arrangieren, wobei die überwiegende Mehrheit dieser "Deutschnationalen" den österreichischen Kaiserstaat nicht in Frage stellen wollte. In der Industrialisierung war aber in Österreich doch eine wesentlich langsamere Entwicklung festzustellen als in Deutschland, weil die Monarchie aus verschieden entwickelten Regionen bestand. Dadurch entstand in Österreich ein Unterlegenheitsgefühl, weil sich die Österreicher nicht so rasch und geschlossen entfalten konnten wie die Deutschen, andererseits ließen die Deutschen die Österreicher dies auch deutlich fühlen. Da die Kontakte durch die gemeinsame Sprache weiterhin zahlreich waren, begann sich diese Rivalität zu verstärken: Die Deutschen hielten sich für tüchtiger, erwiesen sich vielfach auch so, die Österreicher waren ihnen meist nicht gewachsen. Diese Situation war in den letzten Jahrzehnten der Monarchie ausgeprägt und wurde während des Ersten Weltkriegs noch verstärkt, als österreichische militärische Aktionen ohne deutsche Unterstützung nicht durchführbar waren (Durchbruch bei Gorlice 1915, Besetzung von Rumänien 1916, Offensive an der Isonzofront 1917).
Mit dem Ende des 1. Weltkriegs war das Bedürfnis, den klein gewordenen österreichischen Staat mit der deutschen Republik zu vereinen, in weiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung sehr groß geworden, wie die Volksabstimmungen der Jahre 1920/21 in mehreren Bundesländern ergaben. Die Geschichte des Verhältnisses in der Zwischenkriegszeit war durch eine Fülle von Kooperationen geprägt, im kulturellen Bereich durch Vereine, in der immer stärker von deutschen Konzernen beeinflussten Wirtschaft, schließlich im geistigen und ideologischen Bereich. Diese weitverbreitete Bereitschaft zum Zusammenschluss wurde von den Nationalsozialisten ausgenützt und führte 1938 zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich.
Die erreichte staatliche Einheit brachte aber bald Ernüchterung, als man auf die deutlichen Eigenheiten der Österreicher wenig Rücksicht nahm und auch in den volkskulturellen Bereich eindrang. Der Anschluss wurde einerseits durch die Einbeziehung in die deutsche Verwaltungspraxis vollzogen, was zur Modernisierung mancher Lebensbereiche führte, andererseits durch die Umgestaltung des gesamten Verhaltens nach den Vorstellungen des Nationalsozialismus. Dabei stauten sich Gegensätze auf, die nur bei unkontrollierbaren Massenveranstaltungen (etwa im Sport) zum Ausbruch kommen konnten, ansonsten jedoch unterdrückt wurden. Die Vereinheitlichung wurde mit den technischen Mitteln der Zeit (Presse, Rundfunk) vorangetrieben, hatte allerdings geringen Erfolg.
Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs und der Schock des Zusammenbruchs von 1945 machten nicht nur die staatliche Trennung notwendig, sondern bewusst auch weitgehend die wirtschaftliche und gesellschaftliche, weniger die kulturelle Abgrenzung erwünscht. Seither wird der österreichische Staat vom eigenen Volk nicht mehr in Frage gestellt, es bildete sich ein österreichisches Nationalbewusstsein aus, das noch durch außenpolitische Erfolge (Staatsvertrag, Neutralität) und wirtschaftliche Gesundung gestärkt wurde. In vielen Bereichen entkrampfte sich das Verhältnis zu Deutschland und wurde sogar im kulturellen Bereich durch Literatur und Medien (insbesondere das Fernsehen) enger als jemals zuvor. Viele Deutsche sehen Österreich aber weiterhin eher mit Vorurteilen, von Seiten Österreichs ist das Verhältnis eher gelassen, obwohl sich der wirtschaftliche Einfluss Deutschlands stärker entwickelte denn je. Anfangs beobachteten die Alliierten, besonders die Sowjetunion, mit Misstrauen die Entwicklung des Anschlusswillens der Österreicher. Dieser lebte aber nicht wieder auf, sodass die Eigenstaatlichkeit Österreichs unbestritten ist und von Seiten der überwiegenden Mehrheit des Volks auch gewollt ist.
Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 bedeutet eine qualitative Veränderung des Verhältnisses Österreichs zu Deutschland: einerseits hat das im Staatsvertrag von 1955 vorgeschriebene Anschlussverbot seine Bedeutung verloren, andererseits betrifft die neue Gemeinschaft nicht nur Deutschland und Österreich, sondern alle Mitgliedstaaten der EU - eine Entwicklung, die im Bewusstsein der Bevölkerung noch nicht ganz nachvollzogen erscheint.
Historische Bilder zu Deutschland - Österreich (IMAGNO)
Literatur#
- G. Holzer, Verfreundete Nachbarn: Österreich - Deutschland. Ein Verhältnis, 1995
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