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Annie Proulx: Schiffsmeldungen#

Annie Proulx: Schiffsmeldungen / 11. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, 2002 / Rezension von Maurer Hermann

Annie Proulx: Schiffsmeldungen
Annie Proulx: Schiffsmeldungen

Dieses Buch handelt vom Leben eines Quoyle, der ursprünglich aus einer großen Familie in Neufundland kommt, aber in Brooklyn geboren wurde und in einem „Sammelsurium öder Städte im Norden des Staates New York“ aufgewachsen ist. Er ist groß, unansehnlich, hat unzählig sinnlose Jobs. Mit 37 verwitwet und voll Kummer und glückloser Liebe übersiedelt er dann mit einer Tante, die er kaum kannte auf jenen Felsen in Neufundland, von dem seine Vorfahren herkommen, ohne eine Ahnung zu haben was ihn erwartet, außer dass er in einer lokalen Zeitung, die von Anzeigen und erfundenen Geschichten lebt, auch „Reporter“ sein wird.

Trotz aller Primitivität, schlechter Straßen, wilder Stürme (die zu vielen Auto- und Bootsunfällen führen), eisiger Winter, mehr Felsen als Erde, kleinen verkommenen Essbuden, Arbeitslosen Fischern (weil die Heringsvorkommen auch von anderen Ländern fast leergefischt sind), mit einer Mischung von ungewöhnlichen Menschen (mit vielen ist Quoyle über Ecken, ohne das gewusst zu haben, verwandt) kommt er recht gut zurecht, auch in der Lokalzeitung. Bald ist es klar, dass er hier hergehört und hier bleiben wird. Das Buch ist voll von ungewöhnlichen Ereignissen, durch die man einen spannenden und unterhaltsamen Eindruck von Neufundland bekommt und das Gefühl, dass man dort nie leben will.

Blicke auf die Klimakarte und die Landkarte, auf diese Insel ganz im Nordosten von Kanada, die ja lange gar nicht Teil von Kanada werden wollte, verstärken diesen Eindruck.

Genau das ist der Grund, warum ich dieses Buch schreibe, denn ich habe Neufundland vor mehr als 30 Jahren kennen und anders sehen gelernt. Ich war damals bereits Professor in Graz. Da erhielt ich zu meiner Überraschung das Angebot auf eine sehr gut bezahlte Professur mit vielen Mitarbeitern und sehr großzügigen Mitteln um zu reisen oder Kollegen einzuladen an die Universität Victoria auf Vancouver Island, also ganz am anderen (westlichen) Ende von Kanada. Victoria ist eine schöne mittelgroße Stadt, die Insel bietet alles, von Stränden, zu Bergen, von Wäldern zu einsamen Inseln, man kann herrliche Fische und Hummer fangen, und über Fähre oder Flug ist die Millionenstadt Vancouver mit allen ihren Attraktionen leicht zu erreichen. Kurzum: Victoria und die Insel sind ein Traumziel…auch für einen Urlaub, nur zur Hauptreisezeit natürlich auch sehr von Touristen überlaufen.

Ich war also drauf und dran Graz zu verlassen und wieder nach Westkanada zu übersiedeln (wo ich ja schon vorher, in Calgary, 6 Jahre lang sehr zufrieden gelebt hatte.)

Da rief mich an einem Abend der Rektor der University von St. John‘s in Neufundland an: Sie würden mich gerne als Institutsvorstand einstellen. Da mir Victoria zum Leben sehr viel angenehmer schien und auch die offerierten Bedingungen dort sehr viel besser waren sagte ich möglichst höflich, dass ich doch eher das Angebot in Victoria annehmen würde. Der Rektor war verstimmt. Er sagte leicht ärgerlich: „Wie sie wollen. Aber sie können auf unsere Kosten mit Ihrer Frau auf ein paar Tage herkommen und sich die Uni und Land und Leute ansehen.“ Da konnte ich dann doch nicht ablehnen. So flogen meine Frau und ich also nach St. John’s.

Wir wurden von einer Gruppe liebevoll abgeholt und Im Battery-Inn (einem gemütlichen, älteren aber vornehmen Hotel am höchsten Hügel in der Stadt) untergebracht und verwöhnt.

Am Abend streifte ich durch die Fischersiedlung im Hafen, wo die Armut sehr deutlich zu sehen war. Aber, bei jeder offenen Tür rief jemand mir zu „Hey stranger, come in for a drink“. Dass man als wildfremder von Menschen, die kaum genug zum Essen hatten, immer wieder eingeladen wurde und sich nette Gespräch ergaben und als Mann in Anzug wie einer von ihnen behandelt wurde, beeindruckte mich sehr. So etwas wie einen Standesunterschied schien es hier nicht zu geben. Die Gespräche und Kollegen an der Universität am nächsten Tage gefielen wir. Als ich zum Battery-Inn am Hügel zurückging, saß auf der Stiege, die zum Eingang führte ein verwahrloster Mann. Ohne mich zu fragen oder zu bitten, drückte er mir ein Formular in die Hand zum Ausfüllen. Er konnte offenbar weder lesen noch schreiben, aber ich offenbar schon, und so war es „klar“, dass ich das an einem Tisch im Hotel tun würde. Als wir das Hotel betraten dachte ich, dass der Rezeptionist den schmutzigen Mann sofort hinauswerfen würde. Aber nein! Er führte uns in ein kleines Zimmerchen, brachte uns je einen Tee, dem Mann mit einem großen Schluck Rum, und dann später kam er nochmals und goß ihm eine gute Dosis Rum nach. Das Ausfüllen des Formulars (wohl für eine Art von Mindestsicherung) war schwierig: Wohnung? Einmal, unter der einen, einmal unter einer anderen Brücke.
Nächste Verwandet: Keine
Freunde: Tom, Mike, Frank…alle ohne Familiennamen, auch alles Obdachlose.

Ich tat mein Bestes, gab ihm das schlecht ausgefüllt Formular zurück. Er steckte es ein, wünschte ohne einen Dank guten Tag und verschwand.

Ähnliche Situationen wiederholten sich. Jeder wusste, dass er Hilfe bekommen würde, wenn der andere sie geben konnte. Nach drei Tagen war mir klar: Hier wäre ich nicht nur Professor, der unterrichtet und forscht, hier könnte ich wirklich etwas für die Gesellschaft tun, nicht nur vor mich hinleben. Hier wartete eine wichtige Aufgabe für mich.

Im Gespräch mit meiner Frau wurde mir bewußt, dass der Rektor einen Fehler gemacht hatte: Auch meine Frau einzuladen. Sie sah Positives, aber auch was ich nicht sah. Dass die Kinder nicht in das Schulsystem passen würden. Dass man keinen Garten beim Haus haben würde, weil es auf einem Felsen stehen würde. Dass bei Schlechtwetter die Tageszeitung nicht eingeflogen werden kann, das halbe Jahr kalt, feucht und windig sein würde.

So sagte ich schließlich ab, obwohl ich mich vor allem in die Art der Leute verliebt hatte. Aber dann kamen auch Zweifel an Victoria, und wir blieben in Graz.

Einen Mitarbeiter überredete ich mit schlechtem Gewissen den Job in St. John’s statt mir zu übernehmen. Als ich ihn und seine Frau ein Jahr später besuchte, waren sie beide total glücklich, und als er später ein gutes Angebot von der Universität Bonn bekam, zögerten sie sehr lange, wieder nach Europa zurück zu ziehen.

PS: Das Buch ist heute (2023) 30 Jahre alt, meine Beschreiung schildert eine noch frühere Zeit. Neufundland ist „moderner“ geworden, in St. John’s stehen riesige internationale Hotels, usw. Die ehemalige Premierministerin Englands Margaret Thatcher hat auch zur Stimmungsänderung beigetragen, weil durch ihre gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen viele Gewerkschaftsfunktionäre in Länder des ehemaligen Commonwealth übersiedelten. So entstanden auch in Neufundland Gewerkschaften, die eine Kluft zwischen den Menschen öffnete. Das bedingungslose Zusammengehörigkeitsgefühl findet man vielleicht noch teilweise in sehr entlegenen Teilen Neufundlands, vielleicht etwa in Labrador, siehe dazu den Science Fiction Roman „Das Paranetz“, der zum Teil in Labrador spielt. Er ist vergriffen, kann aber als PDF kostenlos von web-books/xperten09de2004iicm heruntergeladen werden.

Ich hoffe, das Buch "Schiffsmeldungen" gefällt anderen so gut wie mir. Die Autorin erhielt später den Pullitzer Preis dafür, und hat mehrere andere Bücher verfasst, z.B. zwei über Ihren Lieblingsstaat Wyoming.