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Erinnerungen von Erich Nezbeda#

Wenn ich das Gästebuch der Bibliothek durchblättere, kommen alte Erinnerungen auf. Es sind Erinnerungen an fast vergessene Ereignisse, verblichene Bilder großer Momente und viele Gesichter von großen und ganz großen Persönlichkeiten, die leider zum Teil nicht mehr unter uns weilen. Schon der Einband erinnert mich an den ehemaligen Buchbinder der Bibliothek, der seine Arbeit mit großer Liebe und Professionalität verrichtete. Er überreichte das Gästebuch -sein Gesellenstück als Buchbinder - der Zentralbibliothek für Physik mit den Worten: „Ich habe zu Hause keine so noblen Gäste." Dieses Geschenk leistete der Zentralbibliothek viele Jahre gute Dienste.

7.1 Die Übergabe der Atomenergie-Bibliothek#

Eine Seite aus dem Gästebuch, auf der sich Nutzer aus aller Welt verewigt haben, darunter Besucher aus den USA, Frankreich, dem Irak, Japan, Jugoslawien, der Türkei und der Schweiz — Mit Neid und Bewunderung.
Eine Seite aus dem Gästebuch, auf der sich Nutzer aus aller Welt verewigt haben, darunter Besucher aus den USA, Frankreich, dem Irak, Japan, Jugoslawien, der Türkei und der Schweiz — Mit Neid und Bewunderung.

Als Anwesender spürte man am 14. September 1955 die Bedeutung des Moments. Die USA schenkten an diesem Tag der Zentralbibliothek der Physikalischen Institute eine wirklich beeindruckende Menge an Literatur zum Thema Atomenergie. Bücher aus mehreren Seekisten mit je eineinhalb Kubikmeter geballten Wissens füllten die eigens für diese Lieferung angeschafften Regale. Es war, obwohl die Inhalte nur unter Berücksichtigung strenger Richtlinien der amerikanischen nationalen Sicherheit freigegeben worden waren, zum Teil Wissen, das bis dato in Österreich nicht verfügbar war, und bedeutete deshalb eine enorme Aufwertung des Bestandes. Dem Anlass und den Gästen angemessen, versuchten wir durch eine Leihgabe des Bun-desmobiliendepots die Räumlichkeiten für die Zeremonie adäquat zu gestalten. So erhielten wir zum Beispiel einen Teppich, welcher der Bedeutung des Moments zwar gerecht wurde, aber leider nicht den uns zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten. Er war länger als der Raum, und wir muss-ten ihn an einer Seite einschlagen.

Original-Zeitungsbericht anlässlich des Besuches einer IAEA-Delegation am 19. August 1955, kurz vor der Übergabe der IAEA-Buchbestände an die Zentralbibliothek für Physik in Wien
Original-Zeitungsbericht anlässlich des Besuches einer IAEA-Delegation am 19. August 1955, kurz vor der Übergabe der IAEA-Buchbestände an die Zentralbibliothek für Physik in Wien

Eingeladen waren der amerikanische Botschafter Llewellyn Thompson, der im Gästebuch die erste Unterschrift hinterließ, die zweite Unterschrift leistete der damalige österreichische Außenminister Leopold Figl, ferner waren Botschafter Matsch und der damalige Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, Bruno Kreisky, anwesend. Im Gästebuch findet sich auch die Unterschrift von Marietta Blau, deren 109. Geburtstag im Jahr 2003 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung an der Universität Wien gefeiert wurde. Leopold Figl genoss nach der Zeremonie Speis und Trank und freute sich wörtlich in seiner unnachahmlichen Art: „Heute haben wir eine gemütliche Note in die trockene Wissenschaft hineingebracht."

Kreisky wirkte damals übrigens sehr reserviert und distanziert. Ich wunderte mich später wie sehr er sich veränderte, lockerer wurde, als er Bundeskanzler wurde. Einer der Kommentare im Gästebuch lautet: „Möge die Atomenergiebibliothek Österreichs Wirtschaft und Wissenschaft Nutzen bringen." Im Zuge der ersten Genfer Konferenz zur friedlichen Nutzung der Atomenergie herrschte damals Aufbruchstimmung. Wir erhielten von den Amerikanern Literatur, und es war auch erstmals möglich, über den Wiener Verlag „Globus" russische Fachzeitschriften zu beziehen. Es war ein kleiner Ansatz, Wien nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftlich als Brückenkopf zwischen Ost und West zu etablieren. Als von der UNO beschlossen wurde, dass eine internationale Atomenergieagentur gegründet werden sollte, wurde ein Proponentenkomitee geschaffen, um die Rahmenbedingungen für die Bewerberstädte zu definieren. Von diesem Komitee wurden folgende Vorgaben festgelegt: eine gewisse Größe, gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr, ein eigener Flughafen und eine funktionierende physikalische Fachbibliothek, die von Angehörigen der IAEA benützt werden konnte. Wie bereits bekannt, erhielt Wien den Zuschlag, und die Bibliothek finanzielle Zuwendungen für den Mehraufwand, da es sehr mühsam und arbeitsreich war, die zahlreichen telefonischen Anfragen entgegenzunehmen, die Literatur auszuheben und sie für den Boten der IAEA vorzubereiten, der fast täglich im eleganten schwarzen Mercedes vorfuhr, die Lieferung abholte und in großen Ledertaschen zuvor entlehnte Bücher zurückbrachte. Da es die UNO-City noch nicht gab, war die IAEA im „Grandhotel" untergebracht, und ausländischen Wissenschaftlern wurde empfohlen, unsere Dienste zu nutzen.

7.2 Aus dem Gästebuch#

Besucher finden heute noch einen Eintrag im Gästebuch vom 17. März 1958. An diesem Tag besuchte der damalige Unterrichtsminister Dr. Heinrich Drimmel die Zentralbibliothek, die dem Unterrichtsministerium unterstand; erst später wurde eine Trennung zwischen Unterrichts- und Wissenschaftsministerium vollzogen. Am Rande möchte ich noch erwähnen, dass Frau Frimmel, eine Mitarbeiterin der Bibliothek, sich tagelang über die Szene des Vorstellens Gedanken machte: „Sehr angenehm, Drimmel!" - „Freut mich sehr, Frimmel!" Ihr Bedenken war eine etwaige Reaktion des Ministers.

Eine der größten Persönlichkeiten, die sich im Gästebuch finden, ist natürlich Erwin Schrödinger. Mit Erwin Schrödinger hatte ich persönlichen Kontakt, an den ich mich sehr gerne erinnere. Er war nicht nur oft in der Bibliothek, sondern ich besuchte ihn, als er krank wurde, auch in seiner Wohnung in der Pasteurgasse, um ihn weiterhin mit Literatur zu versorgen. Ich verbrachte dort Zeiten, die mir immer in Erinnerung bleiben werden, da er ein äußerst scharfsinniger Denker und anregender Gesprächspartner war. Schrödinger plädierte für verlängerte Öffnungszeiten der Bibliothek; ihm, der so lange Zeit in Dublin verbracht hatte, wollte nicht so recht einleuchten, dass man schon „nächtens" um neun Uhr öffnete, aber dafür bereits am „frühen Nachmittag" gegen 18.00 Uhr sperrte. Schrödinger überließ der Bibliothek sehr viel wertvolles Material aus seinem Privatbesitz.

7.3 Mein erster Kontakt zur Bibliothek im Jänner 1955#

Ich hatte immer schon viel für Bücher übrig. Schon in der Volksschule versah ich meine Bücher mit Nummern, ehe ich sie in das Regal stellte - und ich wollte unbedingt in einer Bibliothek arbeiten. Mein erster Versuch galt der Bibliothek des Heeresgeschichtlichen Museums. Am 1 Jänner 1955 -noch zur Zeit der Besatzung - erfolgte mein Eintritt. Mir wurde sehr rasch bewusst, dass ich keine Chance hatte, wie gewünscht in der Bibliothek zu arbeiten, sondern später eher als Museumswächter eingesetzt werden sollte. Konsequent verzichtete ich, worauf mir das Ministerium eine andere Tätigkeit anbot, und so trat ich am 1 Februar 1955 in die Zentralbibliothek der Physikalischen Institute ein.

Mein erster Eindruck von der Bibliothek war kein sehr guter Der damalige Bibliotheksleiter Robert Chorherr war der einzige Bibliotheksbedienstete, entsprechend schwierig war die Bewältigung des Bibliotheksalltags. Die von ihm gewünschte Verbesserung der Umstände führte manchmal wegen mangelnder Ressourcen nicht zum Erfolg. Als zum Beispiel endlich bessere Beleuchtung bewilligt wurde und die Facharbeiter ohne Vorankündigung zu stemmen begannen, fehlten sogar die Mittel, um den Bestand der Bibliothek vor Schmutz zu schützen. So lagen stapelweise von Bauschutt überzogene Bücher auf dem Boden der Bibliothek.

Als junger Mensch mit 22 Jahren, der wegen des fehlenden Studiums wenig von Physik wusste, musste ich mich in die Materie erst einarbeiten. Kunden verlangen leider oft keine Titel, sondern Inhalte, deren Auffindung einen Laien vor unlösbare Probleme stellen kann. Ein Student der Mathematik brauchte beispielsweise sehr dringend Literatur über die Vektorrechnung. Da der Sachkatalog in Bearbeitung und mein Vorgesetzter nicht anwesend war, wandte ich mich an einen der Professoren. Dieser meinte lapidar, ohne von seiner Arbeit aufzusehen: „Geben Sie ihm den Lagally, die Vektorrechnung". Das beeindruckte mich damals sehr, und ich merkte mir den Titel bis heute, da ich annahm, einem verzweifelten Studenten vor einer wichtigen Prüfung geholfen zu haben. Ich erinnerte mich in diesem Moment auch an den Spruch eines deutschen Bibliothekars (Martin Schrettinger) im 19. Jahrhundert: „Ein Bibliothekar, der zum Aufsuchen der Literatur eine Kartei braucht, ist fürwahr ein armer Mann ...". Heute ist das natürlich auf Grund der umfassenden Bestände undenkbar. Damals noch im Hilfsdienst angestellt, absolvierte ich zunächst die Allgemeine Kanzleiprüfung, holte später die Beamtenmatura nach und wurde schließlich in den gehobenen Dienst überstellt. Ich interessierte mich für alles Bibliothekarische, nutzte meine Mittagspause, um mich mit den Inhalten und Standorten der Bücher zu beschäftigen.

Die Videoecke. Hier kann vor Ort aus über 1.000 Videokassetten gewählt werden.
Die Videoecke. Hier kann vor Ort aus über 1.000 Videokassetten gewählt werden.

Die Zeitschriften waren im Zeitschriftensaal ohne besonderes System aufgestellt. Man musste wissen, was sich wo befindet, oder eben laufen: ein bestechendes Beispiel für gelungene Lernmotivation. Ich weiß heute noch, an welcher Stelle sehr ausgefallene japanische Zeitschriften platziert waren. Heute ist die Zeitschriftenabteilung selbstverständlich systematisch organisiert. Die Bibliothek wuchs mit den Instituten, die mehr und mehr Personal aufnahmen. Dissertanten, Assistenten und Professoren stellten dazumal schon hohe Anforderungen an die Fachkenntnis des Bibliothekspersonals. Die stetig steigende Anzahl der naturwissenschaftlichen Publikationen erhöhten den Arbeitsdruck zusätzlich. Wir waren immer zu wenige Mitarbeiter, was trotz rationellster Arbeit zu Überstunden und hoher Belastung führte. Am Ende meiner Karriere blickte ich auf 3.930 unbezahlte Überstunden zurück.

Die Zentralbibliothek diente immer der Wissenschaft, in erster Linie den Wissenschaftlern und Studenten an den Physikinstituten der Universität Wien und an den anderen österreichischen Universitäten, dann den Forschungsabteilungen in Industrie und Wirtschaft und nicht zuletzt auch ausländischen Wissenschaftlern. Diesen gelegentlich auch unentgeltlich, wie zum Beispiel im Fall eines rumänischen Forschers, welcher der Bibliothek in einem Schreiben seine Li-teraturnot schilderte. Einerseits kam er ohne bestimmte Zeitschriftenartikel mit seiner Arbeit nicht weiter, andererseits konnte er die anfallenden Kopier- und Versandkosten nicht bezahlen. Die Bibliothek hat ihm damals seine Literaturwünsche kostenlos erfüllt.

Wir hatten den Auftrag, Fachliteratur zu sammeln und zur Verfügung zu stellen und die Arbeit der Wissenschaftler durch administrative Entlastung bei der Literaturbeschaffung zu unterstützen. Professor Kuffner vom damaligen II. Chemischen Institut lobte unsere Bibliothek und bezeichnete es als Glück, dass es sie (und die Bibliothekare) gäbe, denn seine Assistenten mussten sich um die Anschaffung der Literatur kümmern, und „wenn sie tüchtige Bibliothekare sind, sind sie wissenschaftlich bald tot, arbeiten sie wissenschaftlich gut, haben sie daher wenig Zeit, und der Aufbau der Bibliothek leidet darunter. Teamwork von Bibliothekaren und Fachwissenschaftlern ist unumgänglich nötig, um eine gute Bibliothek zu führen. Wissenschaftler müssen jedenfalls frei von administrativen Pflichten sein."

Mit den uns damals zur Verfügung stehenden Mitteln war die Arbeit viel aufwändiger als heute. Ein Beispiel: Wir haben die Karteikarten zunächst händisch mit Tusche beschrieben, da die Schrift der damaligen Schreibmaschinenfarbbänder ver-blasste und mit der Zeit unleserlich wurde. Die Universitätsbibliothek Wien bedruckte ihre Karteikarten mit einem eigenen Gerät mit Druckerschwärze. Als kleine Bibliothek konnten wir uns das natürlich nicht leisten, also beschrieb ich die Karteikarten händisch mit Tusche und Spitzfeder, weil Tusche sehr haltbar ist und nicht ausbleicht. Heute werden die Literaturnachweise EDV-unterstützt erstellt, die Bedeutung der Karteikarten nimmt immer weiter ab.

Forschungsergebnisse wurden damals für Fachkreise in Maschinenschrift verfasst, vervielfältigt und in internationalen Kollegenkreisen verbreitet. Die einsetzende Literaturflut verlangte ein Anbieten des Informationsmaterials in verkleinerter Form. Das war vorerst die Literatur auf Mikrokarten, später wegen deren besserer Lesbarkeit mit den neuen Bildschirmgeräten und vor allem wegen der Möglichkeit, bei Bedarf Rückvergrößerungen auf Papier anfertigen zu können, auf Mikrofiches. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden mit der Zeit immer mehr in Form der so genannten Preprints, also Vorabdrucke, verbreitet, die auf die kommenden Zeitschriftenartikel hinwiesen.

In dieser Zeit gab es auch noch keine Xerokopiegeräte. Also kopierten wir damals die Rechnungen bei Bedarf im Lichtpausverfahren, um Lieferfirmen auf Verlangen mit der Schecksendung eine Rechnungskopie mitsenden zu können. Die zu kopierenden Objekte mussten fast zwei Minuten belichtet werden, und die ungeliebteste Tätigkeit dabei bestand damals darin, die Ammoniakwanne nachzufüllen.

Manche Kunden und Kundinnen waren sogar bemüht, uns die Arbeit zu erleichtern: Da gab es zum Beispiel Frau Dr. Kremenak, eine Wissenschaftlerin der Firma Eumig. Sie borgte sich aus der Bibliothek sehr viel Literatur aus und ließ sich schließlich einen eigenen Stempel anfertigen, um uns die Eintragungsarbeit in der Entlehnabteilung zu erleichtern.

Für mich waren die Jahre in der Zentralbibliothek eine sehr interessante Zeit, die rasch verging. Ich war unter anderem für das Rechnungswesen zuständig und musste die Buchhaltung samt Originalrechnungen und Zahlungsbelegen in bis zu elf Währungen dem Ministerium vorlegen. Für mich war immer sehr wichtig, die Buchhaltung korrekt zu bearbeiten. Eines Tages in den Achtzigerjahren -wenige Tage, nachdem ich meine Abrechnung abgegeben hatte - erhielt ich einen Anruf aus dem Ministerium: „Herr Kollege, bei Ihrer Abrechnung hängt ein Fisch heraus!" Es handelte sich um einen angeblichen Rechnungsfehler von zehn Groschen. Da ich überzeugt war, keinen Fehler gemacht zu haben, führte ich das gewichtige Argument ins Treffen: „Ich habe dafür den Tischcomputer des Instituts für Theoretische Physik benutzt!" Dies führte sofort zur Einwilligung meines Gesprächspartners, seine Rechnung nochmals zu überprüfen. Wie sich zeigen sollte, war meine Rechnungskontrolle richtig gewesen.

Meine Motivation war immer, meine Arbeit ordentlich zu machen. Ein Bibliothekar muss wissen, dass seine Tätigkeit kein Selbstzweck sein darf, und dass er als wichtiges Rad in einem Uhrwerk zu betrachten ist.

7.4 Der Schutzengel der Zentralbibliothek#

Biblbiotheksdirektor Kerber kennt man als immer engagierten Praktiker bei notwendigen Bauarbeiten
Biblbiotheksdirektor Kerber kennt man als immer engagierten Praktiker bei notwendigen Bauarbeiten

Wir haben ihn zwar nie kennen gelernt, aber zwei Episoden deuten auf seine Existenz hin. Durch die hohen Institutsräume ist der vierte Stock in sehr großer Höhe gelegen; er entspricht dem siebenten oder achten Geschoss eines Neubaus. Im Krieg gab dieses Gebäude also ein hervorragendes Ziel für Luftangriffe ab, daher beschloss man, die Bibliothek zu Kriegsbeginn in den Keller auf provisorische Regale zu verlagern. Der gesamte Bücherbestand musste hinuntergeschafft werden. Der Bibliotheksleiter hatte trotz des hohen Stromverbrauchs die Erlaubnis erhalten, zum Schutz des Bestandes Tag und Nacht Elektroheizungen laufen zu lassen. Die Bücher überstanden ihre Zeit im Keller gut. Aber nach Kriegsende wurde man darauf aufmerksam, dass hinter diesen großen Kellerräumen ein geheimes Depot von brennbaren Flüssigkeiten existierte. Einen gefährlicheren Ort hätte es also im ganzen Haus nicht geben können: eine Explosion oder ein Brand hätten zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes geführt. Nach Kriegsende wurden die Bestände wieder unter großen persönlichen Anstrengungen in den vierten Stock transportiert, und der Bibliotheksleiter Robert Chorherr erwarb sich dabei große Verdienste. Er war es, der trotz zerbrochener Fensterscheiben - im Wintermantel - den Bibliotheksdienst aufrechterhielt. Er kam täglich um neun Uhr früh und blieb bis spät am Abend, sah die Fachzeitschriften durch und legte fest, welche neue Literatur zu bestellen wäre.

Am 1. März 1972 wäre es wieder beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Um die Platznot der Physikinstitute zu lindern, wurde der Plan gefasst, das mit angeblich dreifach überdimensionierter Tragfähigkeit erbaute Institutsgebäude aufzustocken. Als im neu errichteten fünften Stockwerk die Fenster eingesetzt werden sollten, gab es ein schweres Unwetter in Wien; es „schüttete" vier Stunden lang. Ich hatte an diesem Tag ab 16 Uhr frei, nur eine Kollegin war noch im Dienst. Sie hatte ein mulmiges Gefühl, weil trotz Isolierung das Wasser schon durch die Mauern im vierten Stock drang. Die offen aufliegenden Zeitschriften waren immerhin mit Plastikfolie abgedeckt und konnten keinen Scha-BI den nehmen. Meine Kollegin rief mich schließlieh an und bat mich verzweifelt, ihr zu helfen, da sie allein in der Bibliothek war. Alle Taxirufnummern waren andauernd besetzt, und so rief ich schließlich den Polizeinotruf an. Auf Grund der Notsituation hätte mich sogar eine Funkstreife gefahren, wenn eine frei gewesen wäre, aber es waren gerade alle im Einsatz. Die Polizei unterbrach kurzerhand die Leitung einer Taxifunkzentrale und bestellte für mich direkt ein Taxi. Drei Minuten später war ich auf dem Weg in die Boltz-manngasse. Als ich ankam, drang bereits massiv Wasser in den vierten Stock ein. Um das Schlimmste zu verhindern, war ich pausenlos mit dem Ausleeren voller Wasserkübel beschäftigt. Beim Eintreffen der Feuerwehr rann das Wasser bereits durch die Decke, sammelte sich in den Bibliotheksräumen und im Gang und floss die Hauptstiege hinunter. Der Einsatzleiter hatte bei uns Physik studiert und kannte sich daher im Haus aus. Ein Feuerwehrmann erhielt den Befehl, über die alte Wendeltreppe zur Baustelle hinaufzugehen, um auf dem Dachboden nach dem Stand der Dinge zu sehen. Als er zurückkam, rief er uns schon von weitem zu: „Alles hinaus, die Decke bricht durch!"

Erich Nezbeda, langjähriger stellvertretender Direktor der Bibliothek
Erich Nezbeda, langjähriger stellvertretender Direktor der Bibliothek

Im fünften Stock stand das Wasser einen Meter hoch und verursachte so eine Belastung der Decke von rund einer Tonne pro Quadratmeter. Offen gebliebene Fensterhöhlen im neu aufgesetzten Schrägdach hatten den massiven Wassereinbruch ermöglicht. Die Abflussrohre ins Freie waren auf Grund des angeschwemmten Bauschutts völlig verstopft. Die Feuerwehrleute tauchten förmlich, um sie durchzustoßen, während meine Kollegin und ich so viel Literatur wie möglich mit dem Handwagen in Nebenräume schafften - und all das bei einem drohenden Deckeneinsturz.

Wäre der Dachboden durchgebrochen, hätte wahrscheinlich auch unsere Etage nicht standhalten können. Doch wieder dürfte uns der Schutzengel beigestanden haben, denn die Katastrophe blieb aus. Von den Feuerwehrleuten erhielten wir den Hinweis, als Wache über Nacht in der Bibliothek zu bleiben, da wegen der alten, noch stoffisolierten Stromleitungen Kabelbrände nicht ausgeschlossen werden konnten. Meine Kollegin und ich verbrachten also die Nacht in der Bibliothek und gingen erst am Morgen, als die Kollegen kamen, nach Hause.


© Bild und Text öster. Zentralbibliothek für Physik