Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter#
Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte. Verlag Böhlau Wien, Köln, Weimar 2012, 310 S. € 24.90
Helmut Birkhan hat sich als Universitätsprofessor für Ältere deutsche Sprache und Literatur und Keltologe einen Namen gemacht. Neben Fachbüchern verfasste er wissenschaftlich fundierte Standardwerke zum publikumswirksamen Thema "Kelten", wie den 1300-seitigen "Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur" und den Bildband mit 800 Illustrationen (1999). Dankenswerterweise setzt er als Emeritus seine Autorentätigkeit intensiv fort: 2009 erschien "Nachantike Keltenrezeption", 2010 "Magie im Mittelalter" und nun "Pflanzen im Mittelalter".
Dabei sind die Werke der Magistra und Mystikerin Hildegard von Bingen (1098-1179) und des gelehrten Theologen Konrad von Megenberg (1309-1374) seine wichtigsten Quellen. Schriften anderer wichtiger Repräsentanten der mittelalterlichen Naturheilkunde ergänzen sie. Ihre Erkenntnisse und seine Kommentare gruppiert Helmut Birkhan in sieben große Kapitel.
Einleitend geht er dem "langen Weg der Pflanzen in die Wissenschaft" nach. Einige Stationen: Als Begründer der Botanik gilt der griechische Philosoph Theophrastos von Eresos, der um 300 v. Chr. naturkundliche Werke verfasste. Um 77 n. Chr. gab der römische Gelehrte Plinius der Ältere eine 37-bändige Naturgeschichte ("Naturalis historia") heraus. Der um das Jahr 100 wirkende Militärarzt Pedanios Dioskurides, der berühmteste Pharmakologe des Altertums, beschrieb 500 Heilpflanzen. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Arzneibücher charakterisieren Pflanzen mit Eigenschaften wie heiß, kalt oder trocken. Dies mag heutigen Lesern ebenso unverständlich scheinen, wie einige Bezeichnungen. Solche "Identifikationsprobleme" spricht der Autor etwa am Beispiel des Flieders an, bei dem es sich um Holunder handelte.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit "Pflanzen aus der Sicht ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit". Was ist schon Kraut, und was Unkraut? Karl der Große ließ um 792 eine Reichsdomänenordnung erstellen. Das als "Capitulare de villis" bekannte Dokument zählt rund 100 Kräuter und Bäume auf, die in den kaiserlichen Gütern gepflanzt werden sollten. Die Schwertlilie führt die Liste an, die mit der Sauerkirsche endet, darunter auch Obstsorten, die sicher nicht an allen Standorten gediehen, wie Zitrusfrüchte oder Feigen. Unter den Nutzpflanzen, mit Schwerpunkt der Erwähnung bei Hildegard und Konrad, referiert das Kapitel auch Getreide, Gemüse, Obst, Faserpflanzen, Färberpflanzen, Holz und "anderweitig verwendbare Pflanzen". Unter diesen befindet sich die Flatterbinse, deren Mark, in Abfallfett aus der Küche getränkt, als billiger Kerzenersatz diente. Birkhan schreibt: "In einen Binsenlichthalter geklemmt, leuchtet eine 'Binsenkerze' von 30 cm Länge etwa 20 Minuten. Um in meiner Darstellung der mittelalterlichen Sicht der Dinge gerecht zu werden, habe auch ich die Pflanzenwelt, von der ich hier handle, gleichsam im Binsenlicht besehen, das freilich eher die Umrisse denn die Details erkennen lässt."
Der umfangreichste Abschnitt ist "Pflanzen aus der Sicht ihrer magischen Verwendung" gewidmet. Hier findet man alle bei Hildegard und Konrad erwähnten Pflanzen in alphabetischer Reihenfolge, mit ihren "Qualitäten" und ihrer Bedeutung im Sinne der magia naturalis. Man trifft viele Bekannte, von der Alraune, eine der berühmtesten Zauberpflanzen, um die es eine eigene Wissenschaft gibt, Bilsenkraut, die Rauschdroge in der Hexensalbe, das geheimnisvolle Eisenkraut, Knoblauch zur Dämonenabwehr, die positiv besetzte Madonnenlilie, Pfeffer als Hauptgewürz und -medikament des Mittelalters, die Rose, die am häufigsten mit Heiligen in Zusammenhang gebracht wird, das durch die Neidhartspiele bekannte Veilchen bis zur giftigen Zyklame, deren Knolle im Spätmittelalter als "Waldrübe" oder "Erdapfel" verzehrt wurde.
Kapitel 4 nennt sich "Der Garten als Nutz- und Lustort und das Wilde". Vom Inbegriff aller Gärten, dem von Gott geschaffenen Paradies ist die Rede, von Lustgärten in mittelalterlichen Texten, Zier- und Nutzgärten und als Kontrast von "Wilden Leuten", die im Wald hausen. Wilde Leute waren ein Lieblingsthema gotischer Wandbehänge und leben im Sagenschatz weiter (wie "der wilde Mann von Währing").
Um den Wald, seine Nutzung und Recht, das mit Pflanzen zu tun hat, geht es im folgenden Abschnitt. Der "Sachsenspiegel", das älteste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, regelte in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts drastisch die Eigentumsrechte: "Wer nachts gemähtes Gras oder geschlagenes Holz stiehlt, soll gehenkt werden. Wer bei Nacht Korn stiehlt, kommt an den Galgen…" Mittelalterliche Rechtssprechung fand oft unter einer Linde statt. Rose und Lilie waren Rechtssymbole und Herrschaftszeichen. Sie finden sich oft in Wappen.
Außer der heraldischen haben diese Blumen, neben vielen anderen, auch religiöse Bedeutung. "Heilige und fromme Pflanzen" ist das 6. Kapitel übertitelt. Hier lernt man den Paradiesbaum kennen - der originellerweise als Bananenstrauch gedeutet wird -, und eine große Anzahl in der Bibel erwähnter Pflanzen, bis hin zum "Kreuz als Baum des Heils". Ihren Höhepunkt fand die christliche Pflanzenmetaphorik im mystischen hortus conclusus. Das "Paradiesgärtlein" eines Oberrheinischen Meisters um 1420, das den Bucheinband ziert, erfährt eingehende Betrachtung.
Das letzte Textkapitel hat der Autor "Spannweite. Das Pflanzenbild in der weltlichen Tradition des Mittelalters" genannt. Es beginnt mit "Floskel und Ornament". Floskel, wörtlich "Redeblumen", war in der Antike und im Mittelalter positiv gemeint. Die Kunstgeschichte der Pflanze als Ornament gliedert der Mediävist in sechs Stadien: Antikes Akanthusornament - Karolingische Kunst mit Blattkapitellen und Buchmalereien - Abkehr vom pflanzlichen Ornament im 11. Jahrhundert - 12. Jahrhundert mit Leitmotiven wie Palmetten und Knospen, aus denen sich Masken entwickeln - spätgotische Tendenz zur Dreidimensionalität - Rankengeflecht, ab 1460. Nach dem Ausflug in die Welt der Ornamente folgen Gedanken zu "Der Mensch als Pflanze und die Pflanze als Mensch" sowie "Die prophetische Pflanze" und "Weltenbäume und Pflanzenkrieger". Der Ausklang führt in die Gegenwart, zu Tolkiens Roman "Der Herr der Ringe", einem der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts und Erstlingswerk der modernen Fantasy-Literatur.
Ein vollständiger Index der erwähnten Pflanzen nach ihren deutschen Bezeichnungen und botanischen Namen, Abbildungen sowie eine umfangreiche Bibliografie ergänzen das Buch. "Das gut verständliche Werk bietet kulturhistorisch interessierten Leserinnen und Lesern viele spannende Einblicke und Zusammenhänge", verspricht der Werbetext. Und das ist - was selten genug vorkommt - nicht übertrieben.