Milan Turkovic: Wiener Leben. Wien erleben#
Milan Turkovic: Wiener Leben. Wien erleben. Verlag Kremayr & Scheriau Wien 2012.
240 Seiten, mit sw-Fotos von Ulla Schulz. € 22,-
Milan Turkovic ist ein Weltbürger - als Dirigent und Fagottist tritt er von New York bis Tokio auf. Zugleich ist er ein "echter Wiener", geboren in Zagreb, mit Vorfahren aus Wien, Westfalen und Georgien. Seine Vergleiche fallen bewusst subjektiv und auch patriotisch aus: "Denn nach meiner Auffassung ist ein Patriot jemand, der gegenüber der Region seiner Liebe sogar außerordentlich kritisch ist."
Das Buch lässt wirklich kein Vorurteil aus und es ist voller Widersprüche (wie die Wiener Seele?): Grant, Raunzen, Schmäh, Nostalgie, Kaffeehaus, Beisl, Heuriger, Titelsucht, Dialekt und auch sonst "allerlei Sonderliches aus Wien" füllen amüsant und ironisch die 240 Seiten. Hier einige (ebenfalls subjektiv ausgewählte) Kostproben: "Ein gewisser rituell institutionalisierter Eröffnungs-Grant konterkariert das latent vorhandene Charme-Gen". Oder zum Thema Radfahrer: "Auf schwer nachvollziehbar kreuz und quer durch die Stadt und über Gehwege hin und her mäandrierenden Radwegen, aber auch gegen den Einbahnverkehr stieben sie aus allen Richtungen im Stil von Heckenschützen auf das gehende und Auto fahrende Volk zu. Bei manchen von ihnen sieht es sehr nach militanter und todesmutiger Gegenwehr gegen alles Vierrädrige aus." Großem Lob für die Wiener U-Bahn folgt ein kleiner Seitenhieb auf die Tramway: "Dass Straßenbahnen den lächerlichen Namen 'Bim' erhalten sollen, hat man den Wienern nur mit massiver PR-Anstrengung einreden können."
Der Autor hat die Alltagskultur in Wien genau beobachtet, und man wird ihm kaum widersprechen können. Höchstens bei den immer wieder tradierten G'schichterln, wie jenem, dass die Kipferl an die Türkenbelagerungen erinnern. Auch enthält das Buch manches an Information, etwa dass 300 Winzer in der Stadt auf 700 ha Wein anbauen und zwei Millionen Liter produzieren. Bei der Gelegenheit erfährt der "g'mischte Satz", bei den unterschiedliche Reben gemeinsam gebaut, gelesen und vergoren werden, seine Würdigung. Übrigens: 2008 nahm ihn die italienische Organisation Slow Food in ihre "Arche des Geschmacks" auf. 2009 konnte sich Österreich die Bezeichnung "Gemischter Satz" sichern, d.h. kein anderes Land der EU darf Weinflaschen damit etikettieren.
Zusätzlich zu den eher Einzelthemen gewidmeten Essays gibt es längere Kapitel, wie "Wiener Spaziergänge" oder "Bauen und Wohnen". Dabei wird der Blick nach oben "für Ästheten schmerzhaft ausfallen", weil Dachaufbauten "warzenartig wie Geschwüre die Stadtlandschaft 'krönen' ". Ganz wichtig ist die "Kultur und ihr Publikum", schließlich ist der Autor ein namhafter Kulturschaffender. Den "intellektuellen Tunnelblick" kann man ihm ebenso wenig vorwerfen wie "journalistischen Vereinfachungszwang". Ganz ernst wird es, wenn es um Themen wie Xenophobie, Demokratie oder Recht geht.
Gegen Ende steht das Kapitel "Kindheit und Jugendjahre im Nachkriegs-Wien" mit einem persönlichen Schlüsselerlebnis. Als Neunjähriger konnte der Autor mit seiner Mutter Jugoslawien per Bahn verlassen, um in Wien ein neues Leben in Freiheit zu beginnen. Da den beiden die Notwendigkeit eines Identitätsausweises in englischer, russischer, französischer und deutscher Sprache nicht bekannt war, erfuhren sie vom österreichischen Schaffner unerwartete Hilfe. "Der freundliche Zugbegleiter muss wohl ein erhebliches Risiko eingegangen sein, als er anbot, uns kurz vor der Zonengrenze in der Toilette des Postwaggons einzusperren. Dort standen wir atemlos und verängstigt, bis wir die Zonengrenze am Semmering passiert hatten." Inzwischen hat der Autor Wien und die Welt kennengelernt. Seinem Urteil darf man trauen, und beherzigen, wenn er schreibt: "Es geht uns hier sehr gut! Besser, als es viele von uns wahrhaben wollen. Noch nie in der Geschichte Wiens gab es eine ähnlich lange Zeit ohne Krieg und Not. Auch angesichts dramatischer Wirtschaftskrisen, ausufernder Korruption und Zukunftsangst bliebe es dennoch opportun, unser Leben ein wenig zu entjammern."