Werner Kohl, Susanna Steiger-Moser (Hg.): Die österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750-2013#
Werner Kohl, Susanna Steiger-Moser (Hg.): Die österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750-2013. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2014, 484 S., ill., € 39.-
Die Vorgeschichte der Zuckerproduktion in Österreich begann 1722. Damals erhielt die Ostindische Handelskompagnie ein 20-jähriges Privileg zur Errichtung von Zuckerraffinerien in den österreichischen Erblanden. Als obersten Verantwortlichen ernannte Karl VI. keinen geringeren als Prinz Eugen von Savoyen, doch bestand die Handelsgesellschaft kaum ein Jahrzehnt. Wahrscheinlich hat sie das Zucker-Privileg nicht genützt. 1750 - und damit ist ein Eckpunkt der vorliegenden Chronologie markiert - erteilte Maria Theresia ein 25-jähriges Privileg, in Triest "eine Zuckersiederei in deutschen Erblanden einzurichten." Diese Raffinerie bestand bis 1826. Unter Joseph II. entstand die erste Kolonialzuckerfabrik Österreichs in Klosterneuburg. Ein belgischer Adeliger richtete sie 1785 im aufgelassenen Kloster Jakobshof ein. Doch obwohl die Raffinerie bald ein Drittel des Wiener Bedarfs decken konnte und den Doppeladler im Firmenwappen führen durfte, musste sie 1798 schließen. In den folgenden Jahren etablierten sich Kolonial-Zuckerraffinerien in Wiener Neustadt und Wien. Sie verarbeiteten Rohrzucker, der aus den Kolonien stammte.
Finanzpolitische Entscheidungen von Kaisern, Königen und Landesherrn begünstigten in Kontinental-Europa den Zuckerrübenanbau. Schon 1747 hatte der Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf den Saccharose-Gehalt der Rüben entdeckt. Als durch die Napoleonischen Kriege Zucker in Europa knapp und teuer wurde, begann man, den Süßstoff aus Runkelrüben zu gewinnen. Die erste Fabrik eröffnete Franz Carl Achard 1802 in Schlesien, zwei Generationen später zählte Europa mehr als 160 Rübenzuckerfabriken. In Österreich waren es schließlich 54. Nach der EU-Zuckermarktverordnung von 2005 bestehen nur noch zwei: Tulln und Leopoldsdorf, Niederösterreich.
Das vorliegende Buch stellt die traditionellen Großbetriebe in Bruck an der Leitha, Dürnkrut, Enns, Hirm, Hohenau, Leopoldsdorf im Marchfeld, Siegendorf, Tulln und Wiener Neustadt vor. Auch kleinere Raffinerien, wie in Landegg, Pernhofen im Pulkautal, die erste Runkelrübenfabrik Niederösterreichs in Staatz oder die erste oberösterreichische Bauern-Zuckerfabrik Suben , sowie Fabriken jenseits der heutigen Staatsgrenzen, in Tschechien und Ungarn, erfahren ihre Würdigung. Eine besondere Rolle spielten dort die Leipnik-Lundenburger Zuckerfabriken AG der Schoeller-Dynastie und die Jungbunzlauer Spiritusbrennerei (heute mit Firmensitz in Pernhofen, Niederösterreich, weltmarktführender Hersteller von Zitronensäure aus Melasse).
Die pflanzlichen Rohstoffe - Zuckerrohr und -rübe - werden ebenso ausführlich behandelt wie die daraus hergestellten Produkte, u. a. Würfelzucker, Melasse, Spiritus und die Verwendung von Zucker in der Pharma- und Kosmetikindustrie, zur Erzeugung von Biosprit oder in der Hochtechnologie. Dazu kommen Beiträge zu so unterschiedlichen Themen wie Wappen und Münzen, Landwirtschaftsbahnen, Privilegien und Patente, Sozialstrukturen oder medizinisch-ernährungswissenschaftliche Überlegungen. Die Agrana - 1988 als Dachgesellschaft für die österreichische Zucker- und Stärkeindustrie gegründet - und ihr Zuckermuseum in Tulln stellen sich vor, an Organisationen lernt man den "Centralverein für Rübenzucker-Industrie in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie" und den 1932 gegründeten Fachverein der Zuckerindustrie Österreichs kennen.
Der knapp 500-seitige Band umfasst mehr als 40 Artikel von fast 30 Autorinnen und Autoren. Sie alle sind, so die Herausgeber Werner Kohl und Susanna Steiger-Moser, "ohne Ausnahme in ihrer Lebensgeschichte mit dem Thema 'Zucker' in persönlichen Kontakt gekommen". Werner Kohl, Chemotechniker und Chemiekaufmann, hat sich mit industriehistorischen Ausstellungen und Publikationen einen Namen gemacht. Dr. Susanna Steiger-Moser, spezialisiert auf Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, konzentriert sich als Kuratorin und Autorin auf Kulturgeschichte des seit 1921 österreichischen Bundeslandes, Burgenland.
Bei der Hälfte der Beiträge ist Werner Kohl (Mit-)Autor. Außer Firmengeschichten schrieb er hier u. a. über "das Zuckerimperium des Hauses Habsburg", Zuckergradient, "(un-)durchsichtige Machenschaften" oder "die multiple Funktion der Banken in der k. u. k. Monarchie". Susanna Steiger-Moser beschreibt das "Süße Imperium" der burgenländischen Zuckerfabriken und verfasste einen Beitrag, der kulturhistorisch von größtem Interesse ist: "Zucker verändert Sozialstrukturen". Durch die Raffinerien wurden Untertanen zu Arbeitern, Bauern zu Großbauern, Gutsherren zu Fabrikanten. Kinderarbeit war etwas Normales, die Fabriksbesitzer setzten durch karitative Projekte einzelne soziale Aktionen. Sie bauten Arbeiterwohnhäuser - was die Abhängigkeit der Beschäftigten verstärkte, denn mit einem Verlust der Anstellung war die der Unterkunft verbunden. Es bestand keine Sozialversicherung, doch engagierte der Fabrikant in Siegendorf einen Arzt, trug die Behandlungskosten und bezahlte Krankengeld. Auch die Volkssschule, kirchliche und sportliche Aktivitäten wurden von den Industriellen unterstützt. Im Burgenland entstand das spezialisierte Gewerbe der Ofenmaurer, die hohe Schornsteine für die Fabriken errichteten. 1914 erhielt die Hohenauer Zuckerfabrik einen 60 m hohen Kamin mit 2,80 m oberer lichter Weite. Noch 1958 retteten die Spezialisten aus dem Burgenland die Tullner Zuckerkampagne, als sie den explodierten Kamin in kürzester Zeit wieder aufbauten.
"Die österreichische Zuckerindustrie und ihre Geschichte(n) 1750-2013" ist in mehrfacher Hinsicht ein vielseitiges Buch. Doch der Titel täuscht: Hier werden keine Geschichten erzählt, sondern Daten und Fakten aus der Geschichte aneinander gereiht, bisher unbekannte Quellen erstmals zugänglich gemacht. Als sehr aufschlussreich erweisen sich die vielen historischen Fotos. In fleißiger Kleinarbeit ist ein detailreiches Nachschlage- und Grundlagenwerk entstanden, und so die Herausgabe ein verdienstvolles Unterfangen.