Peter Lindenthal: Peregrinatio Compostellana anno 1654#
Peter Lindenthal: Peregrinatio Compostellana anno 1654. Die abenteuerliche Pilgerreise des Christoph Guntzinger von Wiener Neustadt nach Santiago. Tyrolia-Verlag Innsbruck - Wien 2014. 296 S., 156 farb. Abb., € 24,95
Christoph Guntzinger (1614-1673) studierte Philosophie und war Prälat in Wiener Neustadt. Peter Lindenthal, Jahrgang 1950, studierte Volkswirtschaft und war Entwicklungshelfer. Guntzinger pilgerte als 40-Jähriger 1654/55 nach Santiago de Compostela. Mit verschiedenen Transportmitteln reiste er 6.000 km und kam nach elf Monaten wieder gut daheim an. Peter Lindenthal legte mit 45 seine erste Etappe des Camino de Santiago zurück. Sein inzwischen in 7. Auflage erschienener Führer "Auf dem Jakobsweg durch Österreich" stand am Beginn der modernen Pilgerbewegung. "Peregrinatio Compostellana anno 1654" ist das neunte Buch des Tirolers, für den der Jakobsweg zu einem zentralen Element seines Lebens wurde.
Christoph Guntzinger hatte sich aufgrund eines Gelübdes seiner Mutter auf den Weg gemacht. Sie reichte ihrem schwerkranken Sechsjährigen Brunnenwasser in einer Jakobsmuschel. Christoph war sofort gesund. Später besuchte er in Graz das Jesuitengymnasium, schloss das Philosophiestudium als Magister ab und wurde 1637 Priester. Seit 1651 wirkte er als Domherr in Wiener Neustadt. In dieser Zeit beschloss er, "dem hl. Jakobus, dem von Gott gesandten Bewahrer meines Lebens meine Aufwartung zumachen." Seine Reisebeschreibung erschien 1655 im Druck. Peter Lindenthal hat sie nicht nur, behutsam in heutiges Deutsch übertragen, wiedergegeben, sondern auch mit eigenen Erfahrungen angereichert, mit Kommentaren zur Geschichte der einzelnen Stationen versehen und mit Fotos illustriert. Allerdings ist nur ein kleiner Teil der 1000 Bilder, die er im Laufe von fünf Jahren auf den Spuren Guntzingers angefertigt hat, veröffentlicht.
Dazu verfasste Lindenthal einleitende Kapitel "Über das Pilgern", Wallfahrten im 17. Jahrhundert und sein "Projekt Guntzinger". Dieser katholische Priester war nur wenige Jahre nach dem dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten in sechs europäischen Ländern unterwegs. Unwegsames Gelände, kaum Orientierungsmöglichkeiten, wilde Tiere, Straßenräuber und Gauner (Wirte und Herbergsleute inbegriffen), schwierige Proviant- und Nächtigungsmöglichkeiten machten Reisen zur Barockzeit gefahrvoll. Guntzinger formuliert es in seinen "treuherzigen Warnungen" für Reisende so: "Vil Ungemach stost den Pilger an, davor ihn niemand wahrnen kann".
Ohne Lindenthals kompetente Ergänzungen wäre die Beschreibung, von der heute nur noch drei Exemplare existieren, ein zwar historisches, aber totes Dokument. Der moderne Jakobspilger erweckt es zum Leben - nicht ohne auf die teils beachtlichen Lücken hinzuweisen: "Die historische Tatsache der Reconquista, des Kampfes gegen die arabische Besetzung der Iberischen Halbinsel, der ja doch fast acht Jahrhunderte dauerte und Spanien eigentlich bis heute prägt, wird praktisch verschwiegen. … Was die Situation der Juden in Spanien betrifft, so werden sie nicht einmal erwähnt. "
Peter Lindenthal ist auf seiner etappenweisen Forschungsreise den Spuren des Prälaten genau nachgegangen bzw. gefahren. Das Straßennetz ist - wenn auch meist modernisiert - noch so vorhanden wie vor 360 Jahren. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass es "den" Jakobsweg nicht gibt, sondern viele verschiedene Routen, die oft noch den römischen Straßen folgen. Außerdem machte der katholische Amtsträger von einst oft Umwege, um wichtige Marienwallfahrtsorte zu besuchen. Seinen Weg begann Guntzinger am 1. März 1654 in Wiener Neustadt, er führte über den Semmering und Kärnten zunächst nach Italien. In Venedig bewunderte er die Kirchen, in Padua den Reliquienaltar des hl. Antonius. In Mailand wurde er Zeuge der Festlichkeiten zu Mariä Verkündigung. Bei der Überfahrt nach Spanien geriet das Segelschiff in Seenot. Der erste Eindruck in Spanien war eine kirchliche Prozession, an der Masken, Tänzer und lautstarke Musikanten teilnahmen. In Caravaca schilderte er das "wundersame Kreuz" und die daran angerührten Devotionalkopien als "hilfreiches Trostmittel bei allerlei Gefahr." Rechtzeitig zum Patrozinium, in einem Jubeljahr, erreichte der Prälat nach 142 Tagen sein Ziel, Santiago de Compostela. Nach einer Legende aus dem 9. Jahrhundert befindet sich in der dortigen Kathedrale das Grab des Apostels Jakobus. Guntzinger beschreibt die kirchlichen und populärreligiösen Rituale. Wie viele mittelalterliche und auch heutige Pilger wandert er weiter nach Finisterrae, das "Ende der Welt."
Auf dem Rückweg, so meint der Kommentator, verstand sich Guntzinger nicht mehr als Pilger, sondern als Reisender. Die Route führt ihn von Spanien über Frankreich, die Schweiz und Deutschland nach Österreich. Zu Lyon schreibt er: "Eine gewaltige Handelsstadt, katholisch, aber mit einvermengten Ketzern. " Auch im dritten Abschnitt, in der Schweiz, spart der katholische Geistliche nicht mit Kritik an der Reformation. In Herisau kam er "an einer neu erbauten Ketzerkirche vorbei, wo anstatt des Altars eine Cathedra Pestilentia (Anm. Gestank verbreitendes Rednerpult) stand. " Peter Lindenthal verweist einleitend auf die Zeitbedingtheit der gegenreformatorischen Ausdrucksweise: "Aber urteilen wir nicht zu hart über den österreichischen Prälaten, ein von seiner Zeit tief geprägtes Kind."
Bis der barocke Pilger Deutschland erreicht, ist es bereits Winter. Als er sich halb erfroren im verschneiten, dichten Wald verirrt, "betete ich die Josephslitanei. Kaum hatte ich sie vollendet, stand ein großer, ehrbarer Mann vor mir und wies mich in eine Richtung …" Nach etlichen Stunden landet er auf dem Heiligen Berg in Andechs und widmet dem oberbayrischen Heiligtum eine ausführliche Beschreibung. Immer wieder erweisen sich diese als interessanter Spiegel auf die sogenannte Volksfrömmigkeit. Sonst ist bei den Orten außer der Entfernungsangabe oft nur ein knapper Kommentar über den Weg oder die Verpflegung zu lesen - umso wichtiger zum Verständnis sind Lindenthals Kommentare. Nach einer Station in Altötting verbrachte Guntzinger den Advent und Weihnachten in Burghausen, wo sein Bruder Stadtschreiber war.
In Braunau betritt der gebürtige Oberösterreicher wieder seine Heimat. "Hic Amor, hin Patria esst" (Hier ist die Liebe, hier ist das Vaterland") notiert er in seinem Reisetagebuch. Mondsee, das oberösterreichische und steirische Salzkammergut, Graz und Mariazell sind einige weitere Stationen, ehe er über die Schneeberggegend Wiener Neustadt erreicht. Die "wohlerwürdige Priesterschaft und viele andere redliche Bürger" empfangen ihn. So kann er, nach fast einjähriger, gefahrvoller und gesundheitlich strapaziöser Reise schreiben: "Nach meiner Rückkehr (an die kaum jemand glaubte) befinde ich mich … in einer besseren körperlichen Verfassung als jemals zuvor. Gott sei Ehr und Dank."