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Johanna Rolshoven - Manfred Omahna (Hg.): Reziproke Räume#

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Johanna Rolshoven - Manfred Omahna (Hg.): Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur. Cultural Anthropology Meets Architecture Band 1. Jonas Verlag Marburg 2014. 160 S., ill., € 20,-

Das Buch beginnt, als erstes einer neuen Reihe, den Diskurs zwischen Technik- und Kulturwissenschaft zu vertiefen. Ansätze dazu gab es in Graz in den letzten dreißig Jahren mehrere. Den konkreten Anstoß lieferte 2011 die Tagung "Cultural Anthropology Meets Architecture" über den gebauten Raum und dem Umgang damit. Im Mittelpunkt des Dialoges stand die Reziprozität von Menschen und Räumen. "An die Stelle eines praxisfreien Theoretisierens beziehungsweise eines theorielosen Bauens tritt das Lernen von der Differenz," wurde dabei definiert. Nun liegt der Tagungsband mit einem Dutzend Beiträgen vor.

Er ist dem Andenken an die Grazer Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Katschnig-Fasch (1947-2012) gewidmet, zu deren Forschungsschwerpunkten der Wandel in den Alltagskulturen (Wohnen, Lebensstile) und Urban Anthropology zählten. Ihr Referat übertitelte sie "Wirklichkeit vor Utopie. Begegnung im gelebten Raum". Sie stellte fest: "Der gelebte Raum spiegelt kulturelle Aspekte, welche nicht von wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen zu trennen sind. Der gelebte Raum ist daher ein vielversprechender Ort der Begegnung zwischen Architektur und Kulturanthropologie…" Elisabeth Katschnig-Fasch hatte sich schon in den 1980er Jahren gemeinsam mit Studierenden für das städtische Wohnen interessiert und "eingreifende Wissenschaft" praktiziert. Von den Bewohnern der vom Abriss bedrohten "Barackensiedlung" zu Hilfe gerufen, gelang nicht nur die Erhaltung, sondern sogar die Unterschutzstellung als "historische Holzhaussiedlung." So bestätigte sie den Grundsatz: "Eingreifende Wissenschaft bedeutet, kreativ das Wissen der Disziplinen wie das der Menschen für ihre Alltagsbewältigungsstrategien zu nutzen."

Das Themenfeld Kulturanthropologie und Architektur umfasst sowohl Fächer der Architektur, wie Gebäudelehre, Städtebau, Bautechnik oder Architekturtheorie, als auch Bauforschung, Handwerksforschung, Architektursoziologie und die volkskundlich-ethnologische Haus-, Stadt- und Wohnforschung, betonen die Herausgeber. Johanna Rolshoven leitet seit 2009 das Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Manfred Omahna, studierter Kulturanthropologe und Universitätsassistent am Institut für Stadt- und Baugeschichte an der TU Graz, arbeitet an seiner Habilitation zum Thema "Kulturanthropologie und Architektur".

Johanna Rolshoven nennt ihren Beitrag mit einem Anflug von Ironie "Wie wärs mit Cultural Studies in Architecture?" Cultural Studies entstanden im Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre. Jenseits aller Fachgrenzen verstehen sie sich als metadisziplinärer Zugang, von Kritikern auch mit "riesigen Staubsaugern" verglichen, "die sich alles einverleiben, was ihnen in den Weg kommt." Das Vielnamenfach Volkskunde/Europäische Ethnologie/ Empirische Kulturwissenschaft//Kulturanthropologie zählt zu den Cultural Studies. Das Grazer Institut entschied sich für die Bezeichnung "Volkskunde und Kulturanthropologie". Diese hat, so die Ordinaria, drei wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Architektur: Beide Fächer wollen zu etwas Eigentlichem in der Kultur vordringen; sie nützen dazu vielfältige Methoden und Theorien; sie sind offen für unerwartete Möglichkeiten. Als evidente Unterschiede nennt die Professorin: Architektur ist eine Ingenieurswissenschaft, Kulturanthropologie eine Geistes- und Menschenwissenschaft; Architekten arbeiten umsetzungsorientiert, Kulturanthropologie ist frei von Marktinteressen; in der Architektur sind meist Männer tätig, in den Menschenwissenschaften Frauen.

Klara Löffler, a.o. Univ. Prof. am Wiener Institut für Europäische Ethnologie präsentiert "Vorschläge zu einer ethnografischen Baukulturenforschung" und geht besonders auf das Phänomen Einfamilienhausbau ein. Ihr Credo ist der Plurale tantum: "Aus dem Plural Baukulturen sollte ein Plurale tantum … entwickelt werden, der nicht nur dem Reichtum an Varianten des Baugeschehens, sondern auch der Vielfalt von Handlungen und Praktiken … Rechnung trägt." Manfred Omahna spricht sich für eine kulturanthropologisch orientierte Kulturforschung aus, die sich für die Beziehungen zwischen Menschen und Räumen interessiert. Die Hamburger Stadtanthropologin Alexa Färber widmet sich der "Greifbarkeit der Stadt und ihrer kulturwissenschaftlichen Erforschbarkeit." Dabei reflektiert sie die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und anschließende Perspektiven. Die ANT versteht sich als kritische Techniksoziologie, die das Soziale nicht nur als Interaktion zwischen Menschen versteht, sondern auch Dinge als handelnde Akteure definiert. Subjekte wie Objekte werden zu so genannten Aktanten. Dieser Theorie folgt die Sozialhistorikern Anke Rees in ihrem Beitrag "Widerspenstige Gebäude". Als Beispiel wählte sie die Schiller-Oper in Hamburg. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für den Zirkus Busch errichtet, ist das runde Gebäude heute der letzte - wenn auch leer stehende und verfallende - Stahlskelettbau seiner Art. Die Autorin führt dies nicht nur auf die Bauart zurück, die Schiller-Oper mit ihrer speziellen Atmosphäre habe auch erfolgreich für die "Mobilisierung von Verbündeten" gesorgt.

Über Europa hinaus, betrachtet die deutsche Kunsthistorikerin Regina Bittner Megacities, unter dem plakativen Titel "Dichte Städte wirken Wunder". Stadt bedeute immer "Ausschluss und Einschluss, Reibung und Kontakt, Spannung und Begegnung, ein höchst ambivalentes raumzeitliches Gebilde…" Der in Graz lehrende Architekturtheoretiker Anselm Wagner stellt die Frage "Kann Architektur neoliberal sein?". Schon im 19. und 20. Jahrhundert spiegelte die Formwahl den Zeitgeist. Als Beispiele nennt der Autor die Vorliebe "linker" Architekten für die Moderne oder die Bevorzugung des Neoklassizismus durch konservative Bauherren. Das neoliberale Menschenbild orientiert sich u. a. am "Ideal des genialen, sich täglich neu erschaffenden Künstlers - ein Aspekt, der gerade für die Architektur von zentraler Bedeutung ist …" Phänomene wie "starchitecture" oder "signature buildings", die Kommerzialisierung der Architektur beherrschen den Mainstream. Digitale Werkzeuge (CAD) ermöglichen - wie beim Guggenheimmuseum Bilbao - individuelle Formen, die "eine Verflüssigung und Entmaterialisierung des Raumes erlauben, die dem grenzenlosen Fluss von Kapital, Waren und Arbeitskräften der neoliberalen Globalisierung eine visuelle Entsprechung bieten."

Der Hamburger Architekt und Architekturpreisträger Stefan Rettich liefert am Beispiel Berlins einen "Beitrag zu einer rekursiven Stadtentwicklung". Sein prämiiertes Projekt "Lesezeichen Salbke" ist eine Freiluftbibliothek in Magdeburg, zugleich ein Begegnungsraum, der in einem Partizipationsprozess mit den Bewohnern des ehemaligen Industrieviertels entstanden ist. Auh dieses stellt er hier vor. "Treffpunkt Bellevue" nennen die Grazer Kulturanthropologin Judith Laister und der Wiener Architekt Michael Hieslmair ihren reich illustrierten Bericht über "Kontaktzonen zwischen Kunst, Architektur und Kulturanthropologie". Das Experiment fand im "Gelben Haus", einem Großprojekt im Rahmen von Linz 2009, Kulturhauptstadt Europas, statt. Eine zweiwöchige Sommerakademie vereinte Studierende beider Richtungen zur Feldforschung besonderer Art, die in einer Ausstellung und Publikation dokumentiert wurde. Das Buch schließt mit Grundsätzlichem. Der Schweizer Humangeograph Anselm Winkler referiert "Prolegomina zu einer Ethnographie der Architektur". Dazu schlüpfte der Professor - originell - in die Rolle des Ethnologen oder Historikers, um das Lehrangebot für Architekturabsolventen an der ETH Zürich zu schildern.

Wenig überraschend gilt für das Buch und seine Intention, was ein Teilnehmer der Bellevue-Akademie formulierte, "dass relationale Ethnographie zwischen Architektur und Ethnographie - bei Fokus auf das Verhältnis zwischen Mensch und gebauter Umwelt - grundsätzlich erkenntnisfördernd ist."