Silvia Weißengruber: Arbeit und Kritik#
Silvia Weißengruber: Arbeit und Kritik. Versuche alternativer Lebenspraktiken im Neoliberalismus. Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie / Band 19. Jonas Verlag Marburg 2015, 80 S., € 18,-
Schreibt mensch eine Diplomarbeit, ist es neben dem erfolgreichen Universitätsabschluss, wohl das größte Glück, wenn diese publiziert wird. Unkonventionell beginnt Silvia Weißengruber ihr Buch über Lohnvertragsarbeitsmarkt und Systemkritik. Es behandelt die Verquickung von Arbeit und Freiheit, Individualisierung und Solidarität sowie die Bedeutung der Natur und des Müßiggangs. Die Basis dafür bietet eine von der Autorin partizipativ-qualitativ durchgeführte Forschung über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. Als Vertreterin einer kritisch-reflexiv-kontextuellen Kulturwissenschaft will sich die Autorin nicht auf das Kommentieren beschränken, sondern lösungsorientierte Ansätze vorweisen, einen sieht sie im bedingungslosen Grundeinkommen.
Im Teil I, Annäherung, gibt die Autorin ihren Zugang preis: … etablierte sich eine systemkritische Haltung zu einem Teil meines Habitus. Erfahrungen zum Thema (bezahlte und ehrenamtliche) Arbeit sammelte sie u.a. im Büro einer ökologischen Bildungseinrichtung, als Jugendbetreuerin, Wirtin, Hirtin und ländliche Magd. Silvia Weißengruber legt ihr methodisches Vorgehen und das Forschungsfeld offen und (er-)klärt Begriffe. Die Ethnologin führte rund 45 Gespräche, von denen sie vier längere ausführlich darstellt und analysiert. Die drei Frauen und ein Mann zählten zu jenen Menschen, die bewusst an einer Veränderung des aktuellen Gesellschaftszustandes arbeiten, während sie teilweise offiziell arbeitslos gelten.
Teil II behandelt Die Bedeutungen von Arbeit. Schon die Etymologie in verschiedenen Sprachen verweist auf Mühsal, Not, Strafe und sogar Folter. Philosophischen Grundgedanken folgt eine Zusammenfassung des Verständnisses von Arbeit: Von der Antike bis zur frühen Neuzeit war sie tendenziell gering geschätzt und wurde teilweise von Sklaven erledigt. Das Christentum sah in der Arbeit sowohl einen göttlichen Auftrag, als auch Buße, als Teil des Alltags war sie, anders als in der Antike, ohne gesonderten Status. Von etwa 1400 bis 1700 stieg Arbeit zur Tugend auf und wurde als Quelle des gesellschaftlichen Reichtums erkannt. Das Fabrikzeitalter des 19. Jahrhunderts (Stichworte: Taylorismus und Fordismus) brachte die Trennung von Privat und öffentlichem Raum, Arbeitszeit und Freizeit, Lohnarbeit und Arbeitslosigkeit. So blieb es bis etwa 1960, dann setzten sich Zweifel durch. Frauen traten stärker in den offiziellen Arbeitsmarkt ein und versorgten zusätzlich den Haushalt. Die Periode nach 1980 übertitelt die Autorin mit Befreiung und Neuanfang. Allerdings ist die Gegenwart durch eine Reihe von Widersprüchen gekennzeichnet. Einige Stichworte dazu sind: Individualisierung ohne individuelles Gefühl, Prekariat, Überlastung, Unzufriedenheit mit strukturellen Bedingungen.
Teil III, Aus dem Leben, stellt vier Versuche von 30- bis 40-Jährigen vor, anders zu arbeiten: Caro ist in Teilzeit als Grafikerin in einer Werbeagentur angestellt, engagiert sich aber bei einer internationalen kapitalismus- und globalisierungskritischen Organisationen. Mit Bekannten besitzt sie ein Grundstück zur Selbstversorgnung. Raphael hat sich mit seiner Familie auf einem Bauernhof eingemietet. In seiner Studienzeit engagierte er sich für linksautonome, gesellschaftspolitische Projekte, war dann Sozialarbeiter und hat sich im Lauf der Jahre eine individuell angepasste Ausschöpfung des Sozialsystems zurechtgelegt. Regina, ebenfalls politisch links und kapitalismuskritisch eingestellt, arbeitet als diplomierte Krankenschwester. Sie möchte die Vollbeschäftigung auf 50 % reduzieren und interessiert sich mit ihrem Ehemann für ein Großwohngemeinschaftsprojekt. Sarah lebt mit neun Erwachsenen und drei Kindern zusammen in einer Selbstversorger-Landwirtschaft. Ihr Studium an der Universität für Bodenkultur finanzierte sie sich u. a. als Aktmodell, danach absolvierte sie Ausbildungen in Kräuterpädagoik, Akrobatik und Straßentheater. Die Hofgemeinschaft nimmt am links-ökologisch orientierten Aktivismus in nationalen und internationalen Netzwerken teil.
In Teil IV, … und macht Arbeit doch frei ?, behandelt Silvia Weißengruber nochmals Solidarität und Individualität als komplementäre Dimensionen. Ihre Abhandlung bietet eine Fülle von Denkanstößen, auch wenn man sich nicht, oder nur teilweise, mit ihren Thesen und den Lebensentwürfen der Interviewten identifiziert. Einige zitierte Experten-Empfehlungen können auf jeden Fall gut tun: Abwechslungen gehören zur Aufrechterhaltung des Lebens (Hannah Arendt), die Kunst des Müßiggangs wieder erlernen (Erich Ribolits), Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und für den Moment entwickeln (Michael Ende).