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Lioba Keller-Drescher: Vom Wissen zur Wissenschaft#

Bild 'Keller'

Lioba Keller-Drescher: Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820-1950) Aus der Reihe Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen Band 215 . W. Kohlhammer Verlag Stuttgart. 325 S., € 32,-

" 'Wissen' ist in den letzten Jahren zu einer zentralen Vokabel der ihre Ressourcen durchleuchtenden Gesellschaft und ihrer politischen Vertretung geworden. " "Wissen" als Produkt zu beschreiben, ermögliche den Wissenschaften, ihren gesellschaftlichen Nutzen darzustellen, der in den Geisteswissenschaften immer wieder in Frage gestellt werde. Die Beschäftigung mit dem komplexen Begriff "Wissen" könne auch die Perspektiven der innerwissenschaftlichen, fachlichen und Selbstreflexion erweitern, schreibt PD Dr. Lioba Keller-Drescher einleitend. Sie hat sich mit der vorliegenden Studie im Fach Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen habilitiert.

Es war die Universität Tübingen, von der vor mehr als einem halben Jahrhundert die Neuorientierung der wissenschaftlichen Disziplin Volkskunde (inzwischen das Vielnamenfach Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie, Empirische Kulturwissenschaft) ausging. Schon 1959 hatte Hermann Bausinger - 1960 bis 1992 Lehrstuhlinhaber am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft - in seiner Habilitationsschrift "Volkskultur in der technischen Welt" die Neuorientierung des Faches gefordert. 1970 proklamierte das Tübinger Institut den "Abschied vom Volksleben". Die Autoren des gleichnamigen Buches plädierten dafür, die bisherige Volkskunde in eine kritische Sozialwissenschaft zu transformieren. Damit wurden sie Vorreiter im deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Zu den Wiener Vertretern zählte der Volkskundler Helmut Paul Fielhauer (1938-1988).

Es war ein langer Weg, dessen Stationen Lioba Keller-Drescher am Beispiel württembergischer Volkskunde verfolgt. Die Autorin nennt die Entwicklung vom Wissen zur Wissenschaft "eine Archäologie". Ihre Studie beginnt um 1820 mit der Vor-Geschichte ethnografischen Wissens. Die Vorläufer sind bis heute bekannt: Johann Gottfried Herder, die Brüder Grimm und Wilhelm Heinrich Riehl, der als Erster von "Volkskunde als Wissenschaft" sprach. Gelehrte Bürger gründeten Vereine, die sich der regionalen und nationalen Geschichte widmeten. Sie fanden adelige Protektoren, wie in Österreich Erzherzog Johann oder Kronprinz Rudolf. Daneben bestand die "Behördenforschung", in Württemberg das "Statistisch-topographische Bureau", das mehr über Land und Leute wissen wollte. Ortschroniken und Statistiken sollten die regionale Ethnografie darstellen und dadurch die Vaterlandsliebe fördern. Lokale Sitten und Bräuche rückten - wie auch in Wien und den Habsburger Herrschaftsgebieten - in den Mittelpunkt des Interesses. Fragebogen wurden an "Kenner und Liebhaber der Vaterlandskunde" verschickt, doch blieb der Rücklauf eher gering. Als Arbeitsweisen waren im 19. Jahrhundert Reisen, Beobachten, Befragen und Notieren üblich.

Die nächste Phase, um 1860, ist übertitelt mit "das Volk", das nun zum Bezugspunkt wurde. Rückblickend ist interessant, was von den Gewährspersonen mit vorgedruckten Fragebogen erhoben werden sollte. Am Beispiel der Tracht schreibt die Autorin: "Dabei steht der Begriff 'Volkstracht' für einen bestimmten Denkstil, der eine Folklorisierung und Verräumlichung volkskundlichen Wissens impliziert, und die Frageform 'gibt es noch' ,ergänzt durch 'ist untergegangen', behauptet retrospektiv die Gültigkeit dieses Konzepts. Es wurde eben nicht nach der Kleidung der Bevölkerung gefragt, sondern nach der Volkstracht. … Man spürt in manchen Antworten die Tendenz, etwas in Richtung einer mutmaßlich von den Fragestellern erwarteten Antwort zu formulieren. "

Die Zeit um 1900 wird mit "Aktionen" charakterisiert. Die Forscher arbeiteten an einem Schwäbischen Wörterbuch und bedienten sich dabei "verzettelter" Wörter. 300.000, später bis 800.000 alphabetisch sortierter Zettel dienten als Grundlage für die Schriftsetzer, die sie für das Buch "abarbeiteten". Die Fragebogen wurden umfangreicher - mit fünf Hauptthemen zu je sechs Unterbereichen. Das "Feld" weitete sich auf Heimatkunde und Schule, Volkskunde und Vereinsforschung aus.

Um 1920 gewannen die Institutionen an Bedeutung. So entstand das Denkmalamt als Heimatschutzbehörde, deren Aufgabenbereich volkskundliche Gegenstände einschloss. Baden-Württemberg nahm die ins Stocken geratene Flurnamenforschung wieder auf, man berechnete, für 50.000 Flurnamen 90 Obmänner, und 3.000 Sammler zu benötigen. Formulare wurden gedruckt und kostenlos abgegeben, erste Doktorarbeiten angenommen.

Die gut erforschte, belastete Volkskunde der NS-Zeit wird nur ansatzweise behandelt. Das letzte Kapitel, um 1950, ist mit "Milieus" überschrieben. Dies waren staatsnahe Milieus, wie Behörden und Kommissionen, Nachbarwissenschaften, Vereine und Arbeitsgemeinschaften, sowie korporative Milieus (Bünde, Vereine, Burschenschaften). Die Fachvertreter entdeckten Radio und Fernsehen als Möglichkeiten zur Wissensverbreitung. Sie erprobten "kollaborative Arbeitsweisen" und entwickelten neue wissenschaftliche Ansprüche, wie Alltagskulturforschung oder Gegenwartsorientierung.

Obwohl diese detaillierten Studie streng genommen nicht im zu den "Büchern über Österreich" zählt, lohnt sich der Blick über die Grenzen. In der Fachgeschichte ergeben sich Parallelen, und wenn 200 Jahre nach Entstehen der Proto-Volkskunde wieder viel von Heimat etc. die Rede ist, kann es nicht schaden, sich an die Vergangenheit zu erinnern.