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Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Andere Urbanitäten#

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Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Andere Urbanitäten. Zur Pluralität des Städtischen. Ethnographie des Alltags, Band 3. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar. 215 S., ill. € 42,-

Vor fünf Jahren hat Brigitta Schmidt-Lauber, Universitätsprofessorin und Leiterin des Instituts für Europäische Ethnologie an der Universität Wien, mit dem Band "Wiener Urbanitäten" die Buchreihe "Ethnographie des Alltags" gegründet. Im jetzt erschienenen dritten Band geht es um "Andere Urbanitäten". Er stellt Formen des Stadtlebens - Normen, Ideale und Alltagspraxen - in verschiedenen Stadttypen bzw. Stadtgrößen auf verschiedenen Kontinenten werden aus den Perspektiven von Architektur, Stadtplanung, Ethnologie, Japanologie und Afrikanistik vor.

Das Urbane hat Hochkonjunktur, schreibt die Herausgeberin einleitend. "Der Trendforscher Matthias Horx proklamiert gar einen 'Megatrend Stadt'. Immerhin lebt seit 2007 mehr als die Hälfte der Menschen weltweit in städtischen Räumen." Allerdings richte sich das Interesse meist auf die Großstädte. Das "Forschungsfeld Mittelstadt" wäre unterrepräsentiert. Deshalb beschäftigte sich ein vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördertes Projekt mit mittelstädtischen Urbanitäten. Die ethnographische Feldforschung fand 2011 bis 2016 in Wels (Oberösterreich) und Hildesheim (Deutschland) statt. 2015 veranstaltete das Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien eine Konferenz zum Thema. Deren Vorträge bilden die Grundlage des Buches. Im 19. Jahrhundert galten Städte mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern als Mittelstädte, heute sieht man die Grenze zur Großstadt eher bei 250.000 Bewohnern. Doch auch dies wirkt angesichts der Megacities bescheiden.

Die deutsche Japanologin Evelyn Schulz beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Tokio. In Japan leben rund 70 % - 100 Millionen Menschen - in Städten, fast 38 Millionen im Großraum Tokio-Yokohama, der größten Metropolregion der Welt. Bis in die 1990er Jahre war Tokio ein Leitbild der Stadt der Postmoderne, als Prototyp der "flexiblen, sich ständig verändernden Stadt". Die "Amöbenstadt" gilt als Sinnbild für Wachstum, Bewegung und Beschleunigung. Ein Symbol ist der Stadtteil Shinjuku mit dem Regierungsviertel, in dem sich das 243 m hohe, größte Hochhaus Japans befindet und dem Bahnhof, den täglich 3,5 Millionen Passagiere frequentieren. Doch haben inzwischen wirtschaftliche Umbrüche und gesellschaftliche Entwicklungen vieles verändert. Die Identifikation großer Bevölkerungsteile mit der städtischen Mittelschicht ist einer "Differenz-Gesellschaft" gewichen. Der demographische Wandel ("super-alte Gesellschaft") und die Spuren der Katastrophe von 2011 - Erdbeben, Flutwelle und Atomunfall - erfordern neue Formen des urbanen Zusammenlebens. Als alternatives Beispiel nennt die Forscherin u. a. das Stadtviertel Yanaka, in dem die traditionelle kleinteilige Struktur erhalten geblieben ist und gepflegt wird. Dies macht die Gegend zwar zur Touristenattraktion, aber auch zum Vorzeigebeispiel einer menschenfreundlichen, kommunikativen "Slow City".

Das Buch enthält sieben Fallbeispiele, unter anderem die "temporäre Stadt" Davos (Schweiz). Die Zahl ihrer 13.000 Einwohner vervielfacht sich zeitweise durch die Gäste der Einrichtungen der Hotel-, Kur- Sport- und Wissensschaftsstadt. Das Weltwirtschaftsforum macht sie zur Global City. Der Schweizer Ethnologe Thomas Hengartner schlägt für die Stadt mit den vielen Gesichtern die Charakterisierung "Assemblage" vor.

Breiten Raum nehmen die Forschungen des Ethnologen Georg Wolfmayer ein. In seiner Dissertation befasste er sich mit der "Mittelstadt Wels und der Suche nach dem guten Lebensort zwischen Stadt und Land in Zeiten der Kulturalisierung." Dazu verbrachte er fast ein Jahr in Wels und führte zahlreiche Interviews. Eines, mit einem jungen Mann, scheint ihm charakteristisch: "Nichts scheint an diesem Ort zusammenzupassen: Weder sei er eine richtige (große) Stadt noch eine kleine Peripheriesiedlung, vielmehr nehme die Stadt einen Zwischenstatus ein, sei 'ein Ding', das schwierig zu begreifen und eigentlich abstoßend sei. " Im Wirtschaftswunder der 1960er und 1970er Jahre nahm Wels einen herausragenden Aufschwung als industriell-moderne Stadt. Die damals als Symbol der Zukunft erbauten Hochhäuser erscheinen heute vielen Bewohnern "entsetzlich". Die optimistischen Prognosen erfüllten sich nicht. Von 100.000 Einwohnern 1975 sank deren Zahl bis zum Jahr 2000 auf 55.000. Andererseits erwies sich ein Museumsneubau als zu klein dimensioniert und man bemängelt das Fehlen einer Veranstaltungshalle: "Der 'richtige Maßstab' steht weiter zur Diskussion."

Die zweite im FWF-Projekt untersuchte Stadt war Hildesheim. 35 km von der Landeshauptstadt Hannover entfernt, ist sie Sitz einer Universität und hat zwei UNESCO-Welterbestätten. Die Ethnologin Anna Eckert interessierte sich für "Orte, Selbstbilder und Situationen." Anhand von fünf Interviews erklärt sie die Funktionen der Stadt als Ermöglichungsort, Arbeitsort, Herkunftsort, Aufstiegsort und Transitort. Alle GesprächspartnerInnen präsentierten ihr "ein Arrangement zwischen sich und dem Wohnort".

Der letzte Teil des Buches ist " 'Urbanität' in der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung" übertitelt. Er enthält Diskussionsbeiträge des Göttinger Kulturanthropologen Moritz Ege, der Herausgeberin Brigitta Schmidt-Lauber und der Berliner Stadtorscherin Alexa Färber. Sie setzten sich kritisch mit dem in Wissenschaft und Gesellschaft vorherrschenden Verständnis von Urbanität und Stadt auseinander.