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Peter Payer: Auf nach Wien#

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Peter Payer: Auf nach Wien. Kulturhistorische Steifzüge. Czernin Verlag Wien. 264 S., ill., € 23,-

Unsere Städte sind so unerschöpflich wie das Leben selbst, stellte der Jugendstil-Architekt August Endell 1908 in seinem Buch "Die Schönheit der großen Stadt" fest. Wenn der Kulturhistoriker Peter Payer 110 Jahre später durch Wien geht, sieht und hört er nicht nur Schönes. Das Augenmerk des Publizisten gilt den Dingen, die im Allgemeinen nicht auffallen. Seine Wahrnehmungen teilt er in Feuilletons namhafter Tageszeitungen und zahlreichen Büchern, wie "Unterwegs in Wien" (2013), "Quer durch Wien" (2017) "Der Klang der Großstadt" (2018) und "Auf und ab" (2018) mit.

Diesmal lenkt der Stadtforscher den Blick unter anderem auf Trinkbrunnen und Nebelduschen, Blumenkörbe und Mistkübel, Garagen und Poller. Seine urbanistischen Erkundungen umfassen Geschichte und Gegenwart - bis hin zum Terroranschlag in der City und zur Corona-Pandemie 2020. Vielleicht werden wir später einmal, aus der Distanz vieler Jahre, nur mehr von "Wien 2020" sprechen - und alle werden wissen, was gemeint ist. … Eine Chiffre genügt und es entsteht ein kollektives Erinnerungsbild an den Beginn einer der größten Krisen der jüngeren Zeit. Der aufmerksame Beobachter fand einen grundlegend veränderten öffentlichen Raum vor, im ersten Lockdown charakterisiert durch Leere und Stille, bald auch durch neue Party-Hotspots wie Karlsplatz oder Donaukanal.

Anlass und Akteure waren andere als bei historischen Spektakeln. Jetzt Spaß und Protest, spontan und mithilfe sozialer Medien von jungen Menschen organisiert, einst Ehrfurcht gebietende repräsentative Selbstdarstellung zu kaiserlichen Geburtstagen oder Jubiläen. Der Ende des 19. Jahrhunderts neu konzipierte öffentliche Raum bot solchen Großveranstaltungen die ideale Kulisse. Spektakuläre Einzelereignisse, die Hunderttausende Menschen in ihren Bann zogen, wurden schon damals geschickt vermarktet und prägten sich tief in das kollektive Gedächtnis der Stadt ein, weiß Peter Payer. Politische Parteien benützten Straßen und Plätze ebenso für ihre Zwecke, wie Demonstranten oder Veranstalter publicityträchtiger Massenevents in der postmodernen Erlebnisgesellschaft.

Dass man dabei zwecks Effektsteigerung die Nacht zum Tag macht, hat ebenfalls Geschichte. Elektrische Stadt-Illuminationen bestaunten die Wiener schon bei den Kaiserhuldigungen. Kaufhäuser und andere Firmen warben mit Lichtreklamen. 1932 gab es in Wien mehr als 7000, teils mit Glühlampen, teils mit Neonröhren - lichtstark, ohne zu blenden. Die markantesten sah man in den Geschäftsstraßen, wie in der Mariahilfer Straße, wo das Kaufhaus Gerngroß über eine 12 m hohe und 7 m breite Anlage aus roten Neonröhren verfügte. 1926 erhielt es eine neue Lichtreklame: ein Leuchtturm an der Gebäudeecke sandte aus rotierenden Hochleistungsscheinwerfern einen weißen Lichtstrahl in die Nacht. Neben den Warenhäusern gehörten Kinos zu den Pionieren der Leuchtreklame … Sowohl nach außen wie auch nach innen in Erweiterung des öffentlichen Raumes, waren sie aufs Engste mit dem Licht verknüpft. Unter den 170 Lichtspieltheatern Wiens in den 30er Jahren beeindruckten Großkinos wie das "Apollo" in der Gumpendorfer Straße oder das "Scala" in der Favoritenstraße durch ihre weithin sichtbaren Lichtsignale. Der "Sascha Palast" am Rennweg verströmte mit seinen Leuchtobelisken "geradezu mondänes Flair".

Elektrizität war nicht nur für die Beleuchtung essenziell, sondern um 1900 vorübergehend auch im Straßenverkehr. Nachdem 1907 die ersten Oberleitungsbusse des Systems Lohner-Stoll in Gmünd und ein Jahr später in Wien in Betrieb genommen worden waren, galt die erste Elektrobus-Linie Wiens als Sensation. Sie verband 1912 bis 1915 den Stephansplatz mit der Volksoper. Die Garage befand sich in der Michelbeuerngasse, die Ladestation am Währinger Gürtel. Sieben Wagen der Daimler-Tudor-Omnibus-Gesellschaft mit je 13 Sitzplätzen standen im Betrieb, vier in Reserve. Sie waren mit Radnabenmotoren System Lohner-Porsche ausgestattet und erreichten 15 km/h. Auch die Karosserie stammte aus der k. k. Hof-Wagenfabrik Jacob Lohner. Die Passagiere waren begeistert, manche fuhren nur um des Fahrens willen. Sie schätzten die geräuschlose Fortbewegung.

Den Geräuschen widmet der Kulturwissenschaftler eingehende Betrachtung. Sei es die "Wiener Stille", die man im Heiligenkreuzer Hof genießen kann oder die "akustischen Rückzugsorte" der Telefonzellen, deren Zahl in den letzten Jahren rasant abnahm. Der Autor betrachtet markante Straßen der Metropole, Praterstern und Praterstraße, und ungewöhnlicher Architektur, wie Kugelhäuser, Rinterzelt oder den fast vergessenen Ruthnerturm. Die Innovation des Turmglashauses, in dem die "Pflanzen Paternoster fahren" war 1964 eine Attraktion der Wiener Internationalen Gartenschau. Unweit vom Donauturm wurden in dem 40 m hohen Glashaus 15.000 Zier- und Gemüsepflanzen automatisch bewässert und gedüngt. Durch die ständige Bewegung fanden sie ideale klimatische Bedingungen vor. Zwar exportierte die niederösterreichische Firma rund zwei Dutzend Turmglashäuser in alle Welt, doch erwiesen sie sich als unrentabel. Fast alle sind inzwisschen verschwunden. Vielleicht waren sie aber nur ihrer Zeit voraus. Jetzt heißt der Trend Vertical farming mit zeitgemäßer Technik. Ein Pilotprojekt steht in Wien.

Neben der Stadtmöblierung hat Peter Payer bei dieser Auswahl seiner Feuilletons auch prominenten KollegInnen zwei Kapitel gewidmet. Er erinnert an das "Multitalent" Ludwig Hirschfeld (1882-1942), der Filmdrehbücher, Operettenlibretti und publikumswirksame Revuen schrieb In der Zeitung kommentierte er in amüsantem Plauderton Entwicklung und Alltagsleben der Stadt und ihrer Bewohner. Sein ironisch-satirischer Blick auf ihre Freuden, Sorgen und Nöte bescherte ihm eine wachsende Zahl an Lesern. Mit leichter Feder verband er Unterhaltung mit Tiefgang. Hirschfeld arbeitete mehr als drei Jahrzehnte hindurch für die "Neue Freie Presse". Für dasselbe Blatt, und ebenso lange war Alice Schalek (1874-1956), anfangs unter dem Pseudonym Paul Michaely, tätig. Bekannt wurde sie als einzige Kriegsberichterstatterin der Monarchie und erstes weibliches Mitglied des renommierten Presseclubs Concordia. Bei der "Presse" war Schalek eine Nachfolgerin von Barbara Glück alias Betty Paoli (1814-1894), der ersten Berufsjournalistin Wiens. Sie verfasste hunderte Artikel über Kunst und Kultur, Politik und Gesellschaft und diskutierte erstmals frauenrelevante Fragen auf der Titelseite. Selbstbewusst, reflektiert und pointiert ging Paoli an ihre Themen heran, beobachtete das Alltagsleben ihrer Zeit und den raschen Wandel. 1869 schrieb sie: Es ist ein nichtssagender Gemeinplatz, wenn man unsere Zeit eine Zeit des Uebergangs nennt. Das war noch eine jede. Wahr aber ist es, daß sich der Uebergang jetzt mit einer früher nie geahnten Raschheit vollzieht. Peter Payer kommentiert: Man könnte meinen, heutigen Diskussionen zuzuhören …

hmw