Werner Reiss: Das Ding in sich#
Werner Reiss: Das Ding in sich. Philosophische Wege zu einem neuen Realismus. Mit einem Präskript von Michael Hofer. Plattform Verlag Perchtoldsdorf. 108 S., ill., € 18,-
Monsignore DDr. Werner Reiss (* 1941) ist Jurist und Theologe. Er wirkte in Wien als Kaplan, Publizist, in der Erwachsenenbildung, Lehrer an Höheren Schulen, Universitäts-Lektor und Dozent an der Akademie der bildenden Künste. Seit mehr als 25 Jahren fungiert er als Rektor der Johann-Nepomuk-Kapelle in Wien 9. Daneben gilt sein besonderes Interesse der Philosophie. Davon zeugen u. a. die im Plattform-Verlag erschienenen Bücher Neue Legenden (2014), Am Rande des Lachens (2016), Ich und Wir. Kompetenz und Meisterschaft (2019), Ja, aber. Der freie Wille (2020), und Fastenkunst (2021). Nun ist die sechste Publikation in dieser Reihe erschienen: Das Ding in sich.
Im Vorwort schreibt der Verfasser: Dieses kleine Buch handelt von Dingen, die wir alltäglich benützen und zu denen wir immer wieder zurückkehren, weil wir sie brauchen und dem Nachdenken, was sich aus diesem Gebrauch ergibt. … Das Ding schweigt, und dieses Schweigen soll nicht durch selbstgefällige Projektionen unterbrochen werden. … Ich glaube, es gibt nur einen Weg, diesem Dilemma zu entkommen, das ist, den verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes "Ding" nachzugehen und sich anzuschauen, wie in unserer Kultur vom "Ding" die Rede ist. Das heißt, wir sind auf die Hermeneutik verwiesen, die Wege des Verstehens besser zu begreifen.
Die ersten Seiten sind daher "Kunstlehre des Verstehens" gewidmet. Das griechische Wort hermeneuein bedeutet dolmetschen, verkündigen - wie der Götterbote Hermes zwischen Göttern und Menschen vermittelte. Das Problem ist, dass Menschen oft dieselbe Sprache sprechen, aber einander nichts zu sagen haben. Es gilt, den anderen aus seinen Voraussetzungen zu verstehen. Als Merkmale einer hermeneutischen Überlegung nennt der Autor Sprachlichkeit, Geschichtlichkeit und Vernunft. Er schreibt: … Hermeneutik kann man als einen Versuch betrachten, diese Teilelemente der Wirklichkeit wieder zu integrieren. Weiters zeigt Werner Reiss in der Einleitung, welche Rolle die Metapher, der bildhafte Vergleich, auf jeder Ebene der Kommunikation spielt. Er verwendet das geläufige Bild des hermeneutischen Zirkels (H. G. Gadamer) und ergänzt es durch wissenssoziologische Betrachtungen von Alfred Schütz (1899-1959).
Das erste Kapitel handelt vom Ding bei den Griechen und Römern. Es beginnt mit dem Athener Aristokraten Platon (428-348 v. Chr.). Er vertrat die "Knappheit der Rede" aus "Abscheu vor der Überfüllung der Dinge." Dies bedeutet den Verzicht auf Metaphern ebenso wie auf ein "gestaltloses Durcheinander" von (auch erlesenen) Dingen. Die trennende Linie ist zugleich das Zeichen einer angemessenen Lebensführung wie eines ästhetischen Programms.
Das zweite Kapitel trägt die Überschrift Der biblische Materialismus. Jahrhunderte lang diente die biblische Bildwelt als Sammlung von Exempeln, um ewige Wahrheiten sinnfällig darzustellen. Anders als die Griechen, welche die Dinge "ästhetisch", d.h. im Rahmen einer "schönen Ordnung" wahrnahmen, war für die Juden das Ehrfurchtgebietende "schön". Es gilt die Bindung an das Ritual und an das "Gesetz". Das Ritual bestimmt den Weg der Ding-Wahrnehmung im Judentum. Als Beispiel nennt der Autor Shavuot, ein Erntedankfest. In der mit Blumen geschmückten Synagoge werden Anfang und Ende der Prophetenbücher sowie Texte aus den Büchern Genesis, Exodus, Deuteronomium und Ruth gelesen. Die Feier bleibt offen für viele Interpretationen.
Das dritte Kapitel betitelt sich Das Mittelalter und das Ding. Ein relativ neues Forschungsgebiet beschäftigt sich mit soziokulturellen Zusammenhängen und Zeugnissen der materiellen Kultur. Besonders zu erwähnen sind die aussagekräftigen Abbildungen aus dem unmittelbaren Lebensbereich des Autors. Im Mittelalter-Kapitel zeigt er ein Säulenfragment, eine Streitaxt und einen bemalten Schlussstein. Jedoch haben im Buch auch Darstellungen von Dingen wie eine vorchristliche Trinkschale (Kylis), ein römischer Grabstein oder aus dem 20. Jahrhundert ein sogenannter Ottakringer (Sessel, zugleich Aufstiegshilfe), Thonet-Stiefelknecht, Kleiderständer, Spazierstock, eine belgische Jugendstilkeramik, ein englischer Art-Deco-Kaminaufsatz und ein Fensterriegel aus dem Palais Wittgenstein mehr als illustrative Funktion.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) begründete die analytische Sprachphilosophie. Ihn lässt der Autor ebenso zu Wort kommen wie andere prägende Gestalten der Philosophiegeschichte, u. a. Aristoteles, (384-322 v. Chr.), René Descartes (1596-1650) , Immanuel Kant (1724-1804), Karl Marx (1818-1883) und den Arzt Sigmund Freud (1856-1939). Ausführlich zitiert er den österreichischen Philosophen Franz Schupp (1936 – 2016). Werner Reiss hat bei ihm in Innsbruck dissertiert und seinem Andenken dieses Buch gewidmet.