Mit Ikarus im Lift#
Was sich hätte zutragen können#
von Martin Krusche
Ich habe im heurigen Abschnitt von „Die Quest“ schon begonnen, unsere gegenwärtigen Umbrüche mit ein paar kulturhistorischen Betrachtungen zu hinterlegen. Im „Project Space“ des SPLITTERWERK war mit diesem Satz zu eröffnen: „Der Himmel verspricht uns bloß Seligkeit, die Hölle dagegen das Feuer." So der Ereignisauftakt von „Die Quest III“ in der Session „Martin Krusche spricht: Ikarus auf Asphalt. Das Rasen. Ein Text.“
Ikarus wird in den kuriosesten Ecken gehätschelt. Das reicht bis zur Fluglinie Icaro Air in Ecuador, wahlweise die russische Airline Ikar, wo man sich offenbar keinen vertrauenserweckenderen Patron ausdenken mochte. Über Daedalus läßt sich dagegen nicht gar so viel herausfinden. Er wurde offenbar erst durch seine Karriere geschichtsträchtig.
Daidalos (der Einfallsreiche) erweist sich als menschliches Pendant zum göttlichen Handwerker Hephaistos. Beide haben sich als Ingenieure, Architekten, Erfinder und Künstler hervorgetan. Der göttliche und der menschliche Schöpfer. Der Himmel berührt die Erde.
Ikarus spielt in den alten Berichten keine besondere Rolle. Er taucht bloß kurz auf und verschwindet gleich wieder. Wie war das möglich? Sein Sturz ist Legende, sein Aufstieg hat nie geendet. Das mag widersprüchlich klingen. Wer aber eine Vorstellung vom Wesen der Griechischen Tragödie hat, kommt der Sache leichter auf die Spur.
Sie soll nämlich nicht erzählen, was sich wirklich zugetragen hat, sondern das, was sich hätte zutragen können. Und das soll sich nicht durch Erzählung, sondern durch Nachahmung erschließen. So mag begreiflich werden, daß uns der kurze Auftritt des Ikarus in den Mythologien Europas bis heute beschäftigt, während das Leben des Daedalus ausgeleuchtet und daher erledigt erscheint.
Im Griechischen steht da Daidalos. Ich bleibe aber bei der Schreibweise Daedalus, die mir vertraut ist. Der Bildhauer und Maler war vor allem für seine lebensnahen Darstellungen berühmt. Er stammte laut Sokrates von Metion (der Gebildete) ab, so der Hinweis im Dialog „Ion“. Sokrates nannte sich darin spöttisch seinen Nachkommen. In einer Debatte mit Alkibiades (Erster Dialog. De natura humana.) betont Sokrates -- vermutlich rein rhetorisch -- seine noble Ahnenreihe, ein Geschlecht, das auf Prominenz zurückgeht, „o edler Alkibiades, auf den Daidalos, und Daidalos auf Hephaistos, den Sohn des Zeus.“ Der Philosoph nannte Daedalus noch an einigen anderen Stellen von Dialogen, anscheinend als das Exempel für die Art Handarbeiter, der gegenüber er seine Art von Kopfarbeit höherwertig einstufte. Das könnte aber auch an Autor Platon liegen, der generell auf die Künste nicht all zu viel gab.
Hephaistos und Daedalus sind beide dafür bekannt, daß ihnen die Arbeit, das Ersinnen und Ausführen bemerkenswerter Dinge, über alles ging. Hephaistos hat darüber seine Ehe mit Aphrodite verspielt. Über Daedalus’ Frau, die Mutter des Ikarus, konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Da darf man sich ausmalen, in welcher Verfassung der Sohn aufgewachsen sein muß. Einzig die kolportierte Trauer des Mannes über den späteren Todessturz seines Sohnes läßt den Schluß zu, daß er ihm doch am Herzen gelegen sein mag.
Alle bildlichen Darstellungen, die ich je gesehen hab, zeigen mir Ikarus als jungen Mann, meist von athletischem Körperbau, entsprechend den Idealen der griechischen Plastik. Was war sein Job? Ist er bei seinem Vater in die Lehre gegangen, wie einst dessen Neffe Talos? Aber dann hätte er ja am Bau der Flügel, die ihn und Daedalus von Kreta fortbringen sollten, mitgewirkt. Sein Vater wäre nicht in die Situation gekommen, ihm die Ausrüstung und den Umgang damit erklären zu müssen, da der Mythos auch von Probeflügen erzählt.
War Ikarus einfach von Beruf Sohn? Folgt man Ovid, ist er allerdings kein junger Mann gewesen, sondern ein Kind: „Nah stand bei dem Werke der Knabe Ikaros, der ohn' Arg, mit welchen Gefahren er spielte, Bald mit lachendem Mund, wenn wehende Luft sie gehoben, Federn erhaschte im Flug, bald auch mit dem Daumen geschmeidig Drehte das gelbliche Wachs und den Vater im Wundergeschäfte, Störte mit kindlichem Spiel.“
Was für bewegte Zeiten! Menschen hatten anscheinend keine Scheu, die Götter herauszufordern. Götter waren keinesfalls erhaben genug, darüber hinwegzusehen. Sie entwickelten perfide Phantasien, sich an den Menschen abzuarbeiten. Insgesamt entfaltete sich da ein geselliges bis brutales Wechselspiel, das vor allem sehr aufschlußreich erscheint, vielleicht auch manchmal lehrreich, wenn man über sich selbst nachdenkt. Was genau ging also auf Kreta vor sich?
Pasiphaë war die Tochter des Sonnengottes Helios und die Schwester der Zauberin Circe. Sie wurde zur Gemahlin des König Minos von Kreta, einem Sohn des Zeus, mit dem sie acht Kinder hatte, darunter als prominentestes Ariadne.
Minos hätte dem Meeresgott Poseidon einen Stier opfern sollen, hatte aber kein ausreichend stattliches Tier in der eigenen Herde. Also schickte ihm Poseidon aus dem Meer ein prächtiges Exemplar, das sich als würdige Opfergabe eignete. Ein irritierend selbstreferenzieller Vorgang. Minos nahm aber von der Opferung dieses Stieres Abstand und setzte ihn lieber zur Zucht ein, zur Aufwertung seiner Herde.
Poseidon revanchierte sich bei Minos für die Hinterziehung des kretischen Stiers, indem er es an der Frau des Königs ausließ. Er ließ sie in Liebe zu eben diesem Stier entbrennen, was an Perfidie kaum zu übertreffen ist. Dabei attackierte er Pasiphaë gleich auch in ihrer Sexualität. Bis in die Gegenwart ein populäres Mittel, wenn ein Mann einen anderen Mann hart treffen will. Diese Liebe war also keineswegs platonisch.
Während ich mich frage, warum Poseidon den Minos nicht bestrafte, indem er ihm brennendes Verlangen nach einer Kuh in der nämlichen Herde eingab, wo der König dann zum kretischen Stier in Konkurrenz geraten wäre, kommt Daedalus, Vater des Ikarus, ins Spiel. Der berühmte Architekt, Handwerker, Künstler, ließ sich von Pasiphaë gewinnen, eine hölzerne Kuh zu bauen, in die sie kriechen konnte, auf daß der Stier zur Sache käme. So wurde mit Pasiphaë der Minotaurus gezeugt, halb Mensch, halb Stier, eine Monstrosität.
Kaum überraschend, daß Minos den Stiermenschen töten lassen wollte. Es war Ariadne, die ihren Vater von diesem Plan abbrachte. Es war Daedalus, der jenes kretische Labyrinth ersann, in dem der Minotaurus verschwinden mußte. Es war aber auch Ariadne, die dem Helden Theseus einen Faden schenkte, der sich ihm als nützlich erwies. Der in Ariadne verliebte Mann ging daran, den Minotaurus im Labyrinth aufzuspüren und zu töten. Von Daedalus hatte Theseus den Tip erhalten, daß der Ariadnefaden ihm nützen könnte, aus dem Labyrinth wieder herauszufinden, indem er damit seinen Weg markierte. Von der ebenfalls verliebten Ariadne, stammte übrigens nicht bloß der Faden, sondern auch das Schwert, durch welches der Minotaurus umkam.
Minos, einmal mehr nicht Herr der Lage, ließ seinen Zorn diesmal an Daedalus aus, der ab nun auf Kreta festsaß. Der Handwerker und Künstler hatte ursprünglich wegen der Ermordung seines Neffen und Lehrlings Talos aus Athen fliehen müssen. Talos war so talentiert gewesen, daß er den Meister bald übertraf. Bei seinem Einfallsreichtum und Geschick brachte er es etwa auf die Erfindung der Säge und vor allem der Töpferscheibe. Die gilt uns bis heute als das Vorbild für jene Achse-Rad-Kombination, der wir Karren und Wagen verdanken, letztlich auch unsere Automobile.
Daedalus wollte den Konkurrenten loswerden, stieß Talos von Athens Burgfelsen. Ovid schrieb: „Daidalos sah es mit Neid und warf ihn hinunter von Pallas' Heiliger Burg und log, er wäre gestürzt.“ Göttin Athene, wahlweise Minerva, griff in die Sache ein. Sie fing Talos auf, verwandelte ihn in ein Rebhuhn, laut Ovid: „Doch Minerva, Schaffenden Geistern geneigt, fing schützend ihn auf und verlieh ihm Vogelgestalt und umhüllt' ihn inmitten der Luft mit Gefieder.“
Da tut sich ein merkwürdiger Kontrast auf. Ikarus, der Sohn des Daedalus, wird später sein Leben verlieren, weil er mit den vom Vater gebauten Flügeln nicht die angeratene Flughöhe einhält. Er ignoriert die empfohlene Flugbahn, steigt darüber hinaus auf, stürzt zu Tode. Der sichere Kurs wäre quasi in der Rebhuhnexistenz des Talos vorgezeichnet gewesen. Ovid schrieb: „Hoch vom Boden jedoch kann nicht sich erheben der Vogel, Noch auch baut er das Nest auf Zweigen und oben im Wipfel; Nah an der Erde hin fliegt er und legt in Zäune die Eier; Hohes vermeidet er bang, des früheren Falles gedenkend“.
So zeigt sich etwas, das die Griechische Tragödie ausmacht. Die Geschichte wird mit jedem Dreh schlimmer. Wie im Buddhismus könnte man sagen: Nichts ist egal, alles hat Konsequenzen. Dabei sind die Leben mehrerer Menschen auf radikale Art miteinander verstrickt. Daedalus wollte aus Eitelkeit und Anmaßung seinen Neffen, den überlegenen Handwerker, ermorden. Darauf wurde der zu einem Vogel, welcher gar nicht so hoch fliegen kann, um in der Gefahr eines Todessturzes zu sein. Genau das widerfährt dann aber dem Sohn des Daedalus, der überhaupt erst durch des Vaters Hanfwerkskunst flugfähig wurde, um in dieser berauschenden Erfahrung umzukommen.
In der Poetik des Aristoteles findet sich ein interessanter Hinweis: „Aus dem Gesagten erhellt, daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist das, was sich wirklich zugetragen zu erzählen, sondern das, was sich hätte zutragen können und was nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich ist.“ (Kapitel IX, 1921 von Alfred Gudemann übersetzt)
Schon im Kapitel VI hatte Aristoteles angemerkt: „Die Tragödie ist demnach die nachahmende Darstellung einer sittlich ernsten, in sich abgeschlossenen, umfangreichen Handlung, in kunstvoll gewürzter Rede, deren einzelne Arten gesondert in (verschiedenen) Teilen verwandt werden, von handelnden Personen aufgeführt, nicht erzählt, durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) von derartigen Gemütsstimmungen bewirkend.“
In anderen Übersetzungen steht für Mitleid und Furcht wahlweise Jammer (eleos) und Schauder (phobos). Die Tragödie funktioniert demnach nicht als Erzählung, sondern als Nachahmung, „Da es nun handelnde Personen sind, die die nachahmende Darstellung vollziehen…“, oder anders ausgedrückt: „Da wir es nun mit der nachahmenden Darstellung einer Handlung zu tun haben, diese aber durch gewisse handelnde Personen erfolgt…“
Der 7. Absatz in Kapitel VI besagt: „Der bedeutsamste dieser Bestandteile ist aber die Verknüpfung der Begebenheiten, denn die Tragödie ist eine nachahmende Darstellung nicht der Menschen, sondern ihrer Handlungen und des Lebens. Glück und Unglück beruhen auf Handlung und ihr Endzweck ist eine Art Tätigkeit, nicht eine Beschaffenheit. Dem Charakter nach sind wir so oder so beschaffen, unseren Handlungen nach aber glücklich oder das Gegenteil. Daher handeln die Nachahmenden nicht um die Charaktere nachahmend darzustellen, sondern der Handlung zu Liebe werden die Charaktere in ihre Darstellung mitaufgenommen. So sind die Handlungen, will sagen die Fabel, das Endziel der Tragödie, das Endziel ist aber von allen Dingen die Hauptsache.“
Damit empfahl Aristoteles offenbar, nicht die Eigenschaften der Menschen zu bewerten, zu beurteilen, sondern deren Handeln zu verfolgen, um daraus für sich Schlüsse zu ziehen. Kein Tribunal, keine Urteilsverkündung, nur die Gelegenheit, um Erfahrungen zu sammeln und daraus für sich Nutzen zu ziehen.
- Quest III: Die Gefolgschaft des Ikarus
- Interferenzen(Das 2018er Kunstsymposion)