Raumschemata#
(Wie finden wir uns zurecht?)#
von Martin KruscheEs gehört zu den radikalen Erfahrung eines jeden Menschenkindes, ein gutes Gefühl zu bekommen, wo in Relation zur jeweiligen Körperlage gerade vorne, hinten, links, rechts, oben und unten ist. Raumerfahrung, Orientierung, Raumüberwindung sind große Themen, die in unzähligen unserer Schritte fundamentale Bedeutung haben.
Im Jahr 2000 hatten mich meine Praxisschritte bezüglich Online-Situationen in eine Situation geführt, wo die Frage nach den unterschiedlichen Raum-Konzepten und ihren Wechselwirkungen drängend wurde. Es kursierte damals das Begriffspaar Virtuelle Räume / Analoge Räume. Das hatte gedankliche Wurzeln im Begriffspaar Virtualität /Aktualität aus den Werken von Aristoteles.
Wir unterschieden Telepräsenz und reale soziale Begegnung, dabei tauchte auch der Begriff Realraum auf. In diesen neuen Erfahrungen mußt ich mich wieder mit der Wirkmächtigkeit des Denkmodells Zentrum – Provinz auseinandersetzen. Das war in seiner aktuellen Ausprägung durch die Industrielle Revolution geformt worden.
Als im 19. Jahrhundert in Europa neue (Industrie-) Zentren entstanden, die alle Arten von Ressourcen aus ihrer Peripherie bezogen, so auch einen endlosen Strom von Arbeitskräften aus der alten agrarischen Welt, setzen sich Bilder fest, die wir bis heute in unseren Köpfen finden.
Längst davor hatte die Entwicklung der Karavellen (als neuem Schiffstyp, 14. bis 16. Jahrhundert) Möglichkeiten geschaffen, dank derer ein Kolonialismus entstand, in dem Europa begann, die Welt auszuplündern. Ein Fernhandel im Wechselspiel mit dem wachsenden Geldverkehr und Frühkapitalismus zu Zeiten, da vor allem Massengüter nur auf dem Wasserweg transportiert werden konnten.
Dieser Kolonialismus wurde teilweise ideologisch legitimiert. Aufklärung und Wissenschaft lieferten Werkzeuge, um Rassismen zu entwerfen, mit denen sich Weiße über andere erhoben, das Morden und Plündern rechtfertigten. Das gipfelte während des 20. Jahrhunderts im Konzept des Herrenmenschen, wirkte aber auch noch in jenen Formen von „Entwicklungshilfe“, auf die meine Generation kritisch reagiert hat.
Die sanfte Ironie: es waren dann Intellektuelle aus Afrika und Lateinamerika, deren Denken uns half, die kulturelle Situation im eigenen Land kritisch zu überarbeiten, was sich in der Wissens- und Kulturarbeit zum Beispiel als Idee der eigenständigen Regionalentwicklung niederschlug.
Ich nennen als Beispiel Paolo Freire und seine Vorstellung von einer „Pädagogik der Unterdrückten“. Aus Deutschland waren Leute wie Hilmar Hoffmann mit „Kultur für alle“ einflußreich, auch Hermann Glaser mit „Spießer-Ideologie“. In Österreich wurde jemand wie Hans Haid zu einem wichtigen Angelpunkt solcher Überlegungen.
Damit hatte ich auch für die Steiermark darüber nachzudenken, wie sich das Landeszentrum zu seiner Peripherie verhält. Ich erinnere mich gut daran, wie ich bei Diskursen darüber mit Grazer Kulturinitiativen-Leuten regelmäßig gegen die Wand fuhr. In zunehmenden Verteilungswettkämpfen, die es nach offiziellem Selbstverständnis in der „Szene“ gar nicht geben konnte, schien es aussichtslos, diese Zusammenhänge vorbehaltlos zu prüfen.
Das letzte Highlight dieses Versagens lieferte nach meiner Erinnerung die IG Kultur Steiermark in einer Kampagne im Jahr 2017: „Beim 1.Arbeitstreffen ‚Kultur am Land‘ sind wir in Gleisdorf zu Gast, das ein sehr reges Kulturleben hat. Bürgermeister Christoph Stark und sein Team wird die Kulturarbeit der Gemeinde vorstellen.“ (Quelle)
Das heißt, Funktionärin Michaela Zingerle präsentierte uns (seit Jahrzehnten erprobte Initiativenleute) die Arbeit der Kommune als ein Beispiel der kulturellen Best Practice, was an Ironie kaum zu übertreffen ist. Dazu gehörte unter anderem der Programmpunkt „18:45Uhr Auswahl konkreter Maßnahmen und 1. Strategie- und Umsetzungsplan“, von dem meines Wissens bis heute jede Spur fehlt.
Die Notiz zu dieser Veranstaltung: 22. September 2017. Die diesbezügliche Notiz „Das (Kultur-) Politische“ im Rahmen unseres 2017er Kunstsymposions „Artist Is Obsolete“.
In genau diesem Zusammenhang auch die Übersicht „Vernetzung im Kulturbereich“ mit der unmittelbaren Vorgeschichte 1998 & 1999, mit der Wegmarke „Synergie 2000“ (2000/2001) und der durchgängigen Dokumentation bis zu „Das KulturGeviert“ (2016).
Das heißt, bei den Leuten der IG Kultur bestand im Landeszentrum überhaupt keine Kenntnis dessen, was mehr als eineinhalb Jahrzehnte in der Region (Provinz) schon geschehen war. Sie setzten genau dort an, wovon sich die Initiativenszene in ihrem Aufbruch während der 1970er Jahre ursprünglich abgesetzt hatte: bei der offiziellen Kulturpolitik und Programmgestaltung der Kommunen.
Das illustriert einen anderen Aspekt innerhalb konvergierender Raumkonzepte. Die drei Sektoren Staat, Markt und Zivilgesellschaft erfuhren im kulturellen Kontext eine neue Diffusion, die bis heute manifest ist. Das gab der Frage nach den Unterschieden zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten nächste Brisanz.
Genau das bildete sich auch in den Nutzungspraktiken ab, die eine Unterscheidung von öffentlichem und privatem Raum wichtig machen. Ich verstand den öffentlichen Raum immer als eine Sphäre der leiblichen Anwesenheit, worin ich eine Grundlage des politischen Raumes sehe: Das Politische in der leiblichen Anwesenheit als Kontrast zu den Telepräsenzen im „Virtuellen Raum“, der inzwischen auch massenhaft von Avataren und Bots bevölkert ist, also von maskierten Identitäten und „Software-Robots“, die reale Wesen simulieren.
Das hatte in den ersten 2000er Jahren schon Gewicht, als der „Virtuelle Raum“ wuchs und Bedeutung gewann. Das ist heute umso gewichtiger, da wir mit dem Web über mobile Geräte verbunden und 24 Stunden pro Tag online sind, da wir also auf neue Art in unsere technische Info-Sphäre eingegangen sind.
Das wird in naher Zukunft womöglich über implantierte Devices laufen und uns so auf nächste Art mit den Netzen verzahnen. Derlei mag manchen wie Science Fiction vorkommen. Wir finden heute schon Menschen unter uns, deren Herzschrittmacher um einem Defibrillator erweitert ist, über den Software entscheidet, ob die Person im Krisenfall ins Leben zurückgeblitzt werden soll. Vor diesem Hintergrund ist eine Netzanbindung über implantierte Elemente keine so überraschende Idee. In solchem Zusammenhang wird die leibliche Angesehenheit in Räumen realer sozialer Begegnungen zu einem neu aufgestellten Thema. Es schien demnach mehr als nötig, diese bipolaren Erklärungsmodelle zu überprüfen, zu überdenken, womöglich ins Museum zu verfrachten. Verhältniskonzepte wie:
- Öffentlicher Raum / privater Raum
- Alte Welt / Neue Welt
- Zentrum / Provinz
- Virtueller Raum / analoger Raum
Es ist ein wenig irritierend, daß inzwischen einige Prozesse gezeigt haben, sogar in der Provinz wird zentralisiert, bilden sich neue Zentren, die eine Gefälle zu ihrer Peripherie schaffen. Kein Wunder, daß sich das auch in kulturpolitischen Verhältnissen abbildet. Das ist der Retourgang in das vorige Jahrhundert.
Genau in diesem Zusammenhang war unser 2017er Kunstsymposion mit dem Titel „Artist Is Obsolete“ (Kunst als gesellschaftliches Phänomen) durchaus treffend programmiert. (Den Titel haben wir aus der Arbeit von Niki Passath abgeleitet.)
Ich hatte dabei übrigens am Prinzip festgehalten, nicht zu zentralisieren. Das drückte sich in einer mehrjährigen Praxis aus, das Symposion jeweils an verschiedenen Orten umzusetzen. (In dem Fall die Ludersdorf-Session, die Albersdorf-Session, und die Hofstätten-Session.)