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Notiz 075: Sturm im Rücken#

(Eine Session des Oliver Mally)#

von Martin Krusche

Der Sir war schon auf der Autobahn, als ich ihn anrief. „Habt ihr einen Sturm-Modus besprochen? Hier kommt der Regen gerade waagrecht daher.“ „Klar“, meinte Oliver Mally. „Dann spiel ich drinnen und nicht im Garten.“ Darauf hätte ich auch selbst kommen können.

Mallyziös und sturmerprobt: der Sir. (Foto: Martin Krusche)
Mallyziös und sturmerprobt: der Sir. (Foto: Martin Krusche)

Ich muß mich erst wieder daran gewöhnen, daß der Kulturbetrieb anläuft, zwei bis drei Termine die Woche außer Haus vorkommen, daß ich Deadlines zu bedienen hab und inzwischen pro Woche auf wenigstens fünf Telefonate komme. Was für ein Wirbel! (Mally fährt vergleichsweise schon im Overdrive.)

Ich hab dann vor dem Tor gewartet, mich unter dem stürmischen Regen gegen die Wand gedrückt. Als ich im Wagen saß, stand mir allerweil noch der falsche Hauptplatz vor Augen. Ich hätte den Sir nach Hartberg geschickt. Sein Navi bestand auf Pöllau. Die bessere Wahl. (Als ob ich noch nicht in der „Apfelschmiede“ gewesen wäre.)

Carmen Dreier-Zwetti und Stefan Dreier sind mit Obstbau befaßt, aber „Mit all unseren Eseln, Ziegen, Gänsen, Enten, Hühnern, Katzen und Hunden sind wir beinahe wieder bei dem Viehbetrieb angekommen, mit dem die Familie vor über 50 Jahren begonnen hat…“ Das alte Haus in vorzüglichem Zustand. Der Garten einladend, doch genau nicht von dieser radikalen Gerupftheit und Geschniegeltheit, wie das Leute mit ausreichend Tagesfreizeit ihren Grundstücken aufbürden. Hier regieren andere Zusammenhänge.

Mally hatte vor einer Weile begonnen, mit seinem Konzept der „Gartenkonzerte“ wieder dort Boden zu gewinnen, wo er die reale Begegnung mit dem Publikum braucht. Er hat keine Neigung zur Online-Existenz. Dieses Session war allerdings ein Geburtstagsgeschenk für Carmen und der Garten, wie schon angedeutet, unter dem schlechtem Wetter nicht bespielbar.

Die merkwürdige Spannung in der agrarischen Welt, von der ich als Stadtmensch eigentlich nichts weiß. Das harte Warten auf so notweniges Wasser, ausreichend Regen, in die Sorge wegen der Sturmschäden gepackt, mancherorts auch bei uns von schwerem Hagelschlag betroffen… Zack! Ist die Ernte weg. So kann es gehen, wenn man Pech hat. (Siehe dazu auch: die Wegmarke!)

“They call it stormy Monday“ …reicht manchmal locker bis zum Freitag. (Foto: Martin Krusche)
“They call it stormy Monday“ …reicht manchmal locker bis zum Freitag. (Foto: Martin Krusche)

Das alles ging mir bei den ersten Drinks durch den Kopf. Für mich hat Landwirtschaft eine einschüchternde Komplexität, denn irgendwie muß man dauernd sein Augenmerk an so vielen Stellen haben und reagieren, wenn sich da wie dort etwas tut. Dann ist da diese andere Situation, diese Nische, wie ich nun auf einer Couch saß, meinen rechten Ellbogen auf eine Stapel Bücher gestützt, während mir eine Katze, die mich bequem fand, den Bauch gewärmt hat, und vor mir eine Flasche südsteirischer Gin, die ich umgehend auf die Liste der gefährdeten Arten gesetzt hab.

Mally hatte zwei Gitarren dabei, jede davon eigenwilliges Holz. Ich hab es lange nicht gewußt. Man muß es sich erarbeiten, um, wie Mally sagt, in die Gitarre hineinzufallen. Jede hat ihre Eigenheiten, manche ziert sich, und der gelingende Dialog ist nicht vorweg gesichert. Beziehungsarbeit. („Du glaubst gar nicht, was die damals von der Sklavenarbeit auf den Feldern für harte Finger hatten und was die für brutale Gitarrensaiten gespielt haben. Das gab einen Klang, sowas bringt unsereins niemals.“)

Ich denke gerne über Dinge nach, die man nicht wissen muß. Also etwa: haben die Menschen erst die Speerschleuder oder erst Pfeil und Bogen erfunden? Denn der Bogen muß ein Urahn der Gitarre sein. So stelle ich es mir vor, weil ich sonst keinen guten Grund finde, ein Stück Darm aufzuspannen.

Und dann überhaupt: wozu? Weil uns die Natur nur den Mund und die Gliedmaßen gegeben hat, Hände und Füße. Damit läßt sich ja einiges an Musik hervorbringen, die uns offenbar bewegt und unverzichtbar ist. Soll ich mir ausmalen, daß es Menschen gibt, denen an Musik nichts liegt? Von solchen Menschen will ich nichts wissen.

Also: Mally. Der ja in der Musik lebt, wie ich in der Kunst lebe. Obsessiv. Unkündbar. Wenn es dann loslegt, sich eine Erzählung entfaltet, im Kern ein Dialog mit sich selbst, doch schließlich an Menschen gewandt, an diese kleine Gemeinschaft, die sich unter den Gewitterwolken eingefunden hatte, das ist eine magische Praxis. Es ist nicht so, daß Mally etwas vorträgt, er läßt uns an etwas teilhaben.

Mally live in der Apfelschmiede. (Foto: Martin Krusche)
Mally live in der Apfelschmiede. (Foto: Martin Krusche)

Ich hab keine Ahnung, warum wir so gestrickt sind, daß uns Möglichkeiten jenseits der Alltagsbewältigung erst lebend machen, am Leben erhalten, denn wer bloß Dinge erledigen muß, geht daran zugrunde. Gut, das meint nicht bloß die Kunst. Das meint alles sinnvolle Tun, in dem dann diese Magie wohnt. Nimmt man uns das, werden wir zu freudlosen, mitunter gefährlichen Wesen. (Was für ein Witz, daß voriges Jahr Legionen herumposaunten, Kunst sei „systemrelevant“. Als wären wir Neandertaler und müßten das erklären.)

Ich mag nun solche Plätze, wo sich dann für Momente Agrikultur und Kulturkultur verzahnen. Erst die Relevanz. Dann erst das System. So sieht es aus. Bevor die Gäste kamen, konnte ich Stefan Dreier einiges fragen. Wir haben zu unklare Vorstellungen, was ein Bauer wissen und tun muß. Grade der Obstbau hat spezielle Seiten, die aus der Geschichte heraus in unsere Gegenwart reichen. Egal, wie der Apfel schmeckt, erst muß er gut aussehen. So eine heutige Faustregel für den Supermarkt. Die Menschen kaufen mit den Augen.

Kürzlich noch: ansehnliches Tafelobst für die Tische der Herrschaft, das andere, das schäbigere Obst für die Presse. Wie lange dauerte es, daß Most der allgemeine Haustrunk werden konnte? Vorher gab es für die Subalternen, die Dienstboten und Taglöhner, nur Wasser. Als ich vor einer Weile in meiner Gegend alte Vollerwerbsbauern besuchen durfte, bekam ich Most vorgesetzt, den der Bauer so kommentierte: „Hoffentlich ist er noch nicht zu sauer.“ Die alten Fässer im dunklen Keller. Worte wie „Rollnursch“ oder „Schabermühle“ kennt kaum wer außerhalb der Branche. Wenn ich nun in solchen Häusern zu Gast bin, brauche ich nichts mehr von der Kargheit zu ertragen, die hier überall noch vor wenigen Generationen zu Hause war. Wie viele Handgriffe mögen das pro Jahr sein? Was verlangt es an Belastbarkeit und Zuversicht, um so ein Haus zu führen und der Wirtschaft Bestand zu geben?