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Episode 50: Atlantis, Autismus, kulturell gesehen#

(Zum Unterschied zwischen Ethnos und Bios)#

Von Martin Krusche#

Ich erkunde eine mir vorerst fremde Ethnie aus vor allem zwei Gründen. Erstens bewegt mich Neugier, denn was ich schon kenne, bringt nur wenig Kontraste in meine Gedanken. Zweitens bekomme ich Denkanstöße bezüglich meiner eigenen Ethnie, wenn ich eine andere kennenlernen möchte.

Ich möchte davon ausgehen, daß ich heute niemandem mehr erklären muß, was Ethnos von Bios unterscheidet, bin mir dessen aber nicht sicher. Eine Ethnie wird nicht über biologische, sondern über kulturelle Merkmale definiert. Da verzweigt sich freilich etwas in der Begegnung mit Menschen, die dem Autismus-Spektrum zugerechnet werden.

Was sie körperlich, seelisch und in ihrem Sozialverhalten prägt, hat physiologische Ursachen, ist – wie bei uns allen - in einem leiblichen Sosein begründet. Dieses leibliche Sosein zeigt freilich Besonderheiten, die Sie bei mir nicht finden können. Das führt im Autismus vielfach zu einer kognitiv radikal anderen Ausstattung als ich sie habe.

Als ich die Episode #50 im Gleisdorfer Zeit.Raum vorbereitet hab, kam aus meiner Facebook-Community ein interessanter Kommentar. Zitat: „Zum Bild, Käthe Kollwitz war sicher nicht autistisch. Gerade in ihrer Kunst spürt man ihre persönliche Betroffenheit und Mitgefühl für andere Menschen.“

Da wollte ich auf Anhieb fragen: „Sicher nicht? Woher wissen Sie das?“ Kollwitz lebte zwischen 1867 und 1945. Da hatten ihre Zeitgenossen Eugen Bleuler und Siegmund Freud das Thema vermutlich noch nicht gar so weitreichend ergründet, als daß allzu viele Menschen schon einen Autismus-Befund erhalten hätten; zumal Frauen ihn bis heute oft später erhalten als Männer. Aber es gab ja keinen Grund, Kollwitz mit Autismus zu assoziieren, mir ging es um das Frauenbildnis.

Der zweite Satz ist ein wenig verräterisch. Ohne etwas unterstellen zu wollen, lese ich das so: „Im Gegensatz zu Autisten, denen es an Betroffenheit und Mitgefühl für andere Menschen eher mangelt, spürt man diese Eigenschaften gerade in der Kunst von Kollwitz.“

Ich fasse zusammen: Ob Kollwitz Autistin war oder nicht, können wir nicht wissen. Es gibt keinen Befund, es gibt nicht einmal Hinweise, derlei Annahme in Erwägung zu ziehen. Wenn man freilich ihrem Werk „persönliche Betroffenheit und Mitgefühl für andere Menschen“ attestieren kann, was übrigens bloß eine Interpretation ist, dann wäre das kein Beleg, der einen Autismus-Befund ausschließen würde.

Ich sollte jetzt noch einmal betonen, daß es keine Kollwitz-Autismus-Debatte gibt. Ich verwende in der Begleitung der Kunstfigur „Die Frau aus Atlantis“, hinter der mein Dialog mit einer realen Autistin steht, kanonisierte Werke der Kunstgeschichte. Aus dem einfachen Grund, weil ich die reale Autistin nicht vor den Vorhang zerren werde, stattdessen eben die Kunstwerke zeig.

In meinem Erkunden der Kultur autistischer Menschen, wobei ich derzeit einen speziellen Fokus auf Frauenleben habe, fand ich es faszinierend, die Darstellungen von Frauen aus mehreren Jahrhunderten durchzusehen. Dabei hat mich Kollwitz aktuell besonders beeindruckt.

Ich sehe übrigens keine Möglichkeit, autistischen Menschen allgemein zu unterstellen, sie wären ohne „Betroffenheit und Mitgefühl für andere Menschen“. Falls mir daran läge, derart intime Belange aufzudecken, müßte ich zuerst vermutlich fragen: „Was wäre das autistische Äquivalent zu dem, was ich an mir für Mitgefühl halte?“

Und zwar deshalb, weil ich annehmen muß, daß mir meine Art in der Welt zu sein keinerlei Vorstellung anbietet, wie sich Gefühlsleben in autistischen Menschen ereignen. Dann jedoch zu unterstellen, daß sie keines haben, hielte ich für eine Mischung aus Anmaßung und Affront.