Notiz 016: Wir Automobil-Paparazzi#
(Walking Conference zu Mobilität und Design)#
von Martin KruscheWenn mich der Dottore besucht, gönnen wir uns eine Einstiegsplauderei, dann fragt er mich: „Wohin?“ Und schon hauen wir uns über die Dörfer. Wir sind Automobilpaparazzi. Das bedeutet, wir scannen unterwegs immer die Straßenränder, Vorgärten, Schaufenster, Höfe, ganz egal, wo wir uns befinden und was gerade zu tun ist. Es reicht schon ein Stück Linie, das formal aus der Zeit fällt, wenn es im Augenwinkel auftaucht, eine alte, sonnengegerbte Lackfarbe, eine markante Fensterform, ein merkwürdiger Radkasten-Rand, und schon gehen in uns die Warnlichter an.
Zu Fuß ist es einfach. Im Auto: Bremsmanöver, reversieren oder wenden, raus aus der Karre, den Fotoapparat im Anschlag. Taugt der Fund etwas, gehen gleich die Debatten los. Die Einzahl von Paparazzi lautet Paparazzo. Manche unter Ihnen werden es vielleicht wissen, das ist vor allem ein Charakter aus dem Film „La dolce vita“ (1960) von Federico Fellini. Ein Festival der Dekadenz, eine überaus legendäre Brunnen-Szene. (Mords ein Gedränge um Anita Ekberg, ich hätte mich dagegen um eine Rendezvous mit Anouk Aimée bemüht.) Überdies ein Film mit dezentem Fuhrpark: (Link)
Paparazzo#
„Con il termine paparazzo si definiscono (a volte in modo dispregiativo) quei fotografi specializzati nel riprendere personaggi famosi in occasioni pubbliche o nella loro sfera privata, quasi sempre cercando le situazioni più particolari, più rare, più compromettenti (in modo da poterne ricavare più denaro).“Das heißt, als Paparazzi werden - etwas abschätzig - jene Fotografen bezeichnet, die sich auf das Abschießen von Promis in allen denkbaren, möglichst ausgefallenen Situationen spezialisiert haben, um damit gutes Geld zu machen. Bei Fellini spielt Walter Santesso diesen Typen an der Seite von Marcello Mastroianni, der den Boulevard-Journalisten Marcello Rubini gibt.
Wir dagegen jagen Autos. Hauptsächlich in freier Wildbahn und in offenen Gehegen. Museum oder Klassiker-Treffen gelten auch, sind von uns aber nicht so hoch bewertet. Am meisten zählt der spezielle Straßenfund, den man grade noch entdeckt hat. Da der Dottore noch weit bessere Augen hat als ich, 20 Jahre Altersunterschied machen sich eben vielfältig bemerkbar, hat er eine hervorragende Quote per fahrendem Auto.
Wir stolpern freilich auch über allerhand andere Zeichen. Alles, was uns anspricht, kommt Stück um Stück in das jeweils flüchtige Puzzle, wird eingesetzt, hin- und hergerückt, um das Bild zu verdeutlichen. Speziell das Bild des 20. Jahrhunderts, welches wir verstehen wollen, um eine klarere Vorstellung zu bekommen, wohin die Reise derzeit geht.
Codes#
Industriedesign und Mobilitätsgeschichte. Architektur und Dresscode. All das birgt Kommunikationsmittel, mit denen wir einander permanent Mitteilungen machen. Wenn wir unterwegs auf inspirierte Menschen treffen, fliegt uns die Zeit um die Ohren. Debatten über Debatten. Der Dottore, genauer: Norbert Gall, ist ein Marketingexperte. Er hat viele Jahre für die Automobilbranche gearbeitet, von Abarth über DAF bis Lexus und Toyota. Nun aber dieser Genre-Wechsel.Marketing für Lithography-based Ceramic Manufacturing (LCM) bei Lithoz. Das ist absolut Vierte Industrielle Revolution. Gall wuchs in die dritte, die Digitale Revolution hinein, ich bin im Grunde noch ein Kind der Zweiten Industriellen Revolution. Wir haben also eine Menge zu grübeln, was da gerade los ist.
In “Aviatik und Akrobatik“ (Was sich rund um 1909 verdichtet hat) hab ich eine spezielle zeitliche Markierung herausgearbeitet. Blériot & Co. (Irgendwo auch der sagenhafte Oberingenieur Karl Slevogt im Hause Johann Puch, wo es auch Ferdinand Lanner stauben und krachen ließ.)
Dazu Hintergrundgeschichten, etwa wie sich etwa die Bemalungen von Jagdflugzeugen des Ersten Weltkrieges als kultureller Code entfaltet haben, um bis in unsere automobile Gegenwart zu reichen: „Lackierte Kampfhunde“ (Jagdgeschwader in Bodennähe und ihre Dekors) Sie ahnen gewiß, wir sind dauernd mit Grübeleien und Recherchen befaßt…
Umbrüche#
Ich sehe mich also nach den neuen Produktionsmethoden um, besuche aber auch die alten Schrauber, um der „Ehre des Handwerks“ auf die Spur zu kommen. Technologissprünge, Medien-Stürme, Code-Wechsel, Transition… Wir sind mitten in einer wunderbaren Krise, in einem fulminanten Umbruch. Nein, das hat nicht mit Corona zu tun, die Seuche vertieft bloß ein paar Kontraste. Es hat mit dem Lauf der Dinge zu tun.Und wie ich gerne sage: Ist die Lawine erst einmal losgebrochen, wirst du sie surfen oder sie reißt dich weg. Dazwischen sehe ich kein Optionen. Solche Dinge debattieren wir unterwegs, der Dottore und ich. Eine rollende Konferenz. Und allerweil taucht was Interessantes auf. Manches wird durch die Scheibe fotografiert, für manches wird aus dem Auto gesprungen…
Diesmal also die Oststeiermark hinunter, rüber in die Südsteiermark, rauf nach Graz, um auf einem Parkdeck das Setting des Saturday Night Cruising der Alltagsklassiker zu begutachten. So wird aus der Konferenz ein Symposion, ein Gastmahl in einem Laden, wo ich verschiedene Formulare zur Auswahl habe. Da muß ich die Komponenten meines Essens selbst festlegen. Aber jetzt noch kurz ein Ausschnitt unserer rollenden Konferenz, um zu verdeutlichen, wie die Kontinuität in unserer Praxis der kontinuierlichen Kulturarbeit funktioniert. Das aktuell Vorgefundene wird laufend mit früheren Momenten assoziiert und außerdem in die Geschichte hinein verzweigt.
Fordissimo#
Als wir diesmal erste Streckenpunkte unserer Fahrt festgelegt hatten, war der Ort Gnas darunter. Da sag ich allerweil: „Ist größer als es klingt.“ Sagt der Dottore: „Da gibt es eine spezielle Ford-Werkstatt.“ Sag ich: „Dort fordelt es erheblich.“ (Gemeint ist die Firma Saria.) Ich erinnere mich, dort in der Nähe einen Transit erwischt zu haben, auf dessen Nase der Firmenname zu „DORF“ umgruppiert worden war. Und während ich mit das angesehen hatte, rollte ein nachtschwarzer Capri 2.8i auf das Set.Als wir nun nach Gnas kamen, drückten wir uns gleich die Nasen an der Scheibe flach. Escort Mk I im Kampfstil, also mit ausgestellten Kotflügeln und dem Schatten eines Überrollkäfigs. Dahinter, weitgehend von anderen Fahrzeugen verdeckt, zwei Capris, einer davon die scharfe Version. Durch die Scheibe schwer zu fotografieren. (Später entdeckte ich zu Hause diesen kleinen Bericht des Dottore aus dem Jahr 2006: Ford Capri RS (fette beute), hier als PDF-Datei.
Aber ich erinnerte mich ferner: Ilz. Ein Klassiker-Treffen im 2015er Jahr? Das würde ich zu Hause überprüfen. Bingo! Die waren dort, zwei Capris und der Escort. An dem Hundeknochen hänge ich besonders, wenn wo einer auftaucht, was selten vorkommt. Ich hatte als junger Mensch selbst so ein Monster, dem gerne die Elektrik ausfiel, wenn ich bei Regen in eine tiefe Lacke fuhr.
Marcos#
Das war aber noch nicht alles. Anderntags, daheim, weit über dreihundert Fotos durchzusehen, da entdeckte ich auf einem der Escort-Fotos eine auffallende Kontur hinter der Scheibe, die hinter der Scheibe liegt. „oidaaaa! was hamma da hinterm escort übersehn?“ in den Messenger gehauen. Kommt vom Dottore lapidar: „Marcos 1600 GT.“ Ich darauf: „ich hab den eh amal fotografiert. muß ich raussuchen. ob das nicht bei deiner abarth-präsentation am wachauring war?“War es aber nicht. (Das ist ein seltener Alfa gewesen.) Wo wurde ich seinerzeit fündig? Na, in Ilz ist einer gewesen. Und in Gleisdorf ein anderer. Jeremy Marsh und Frank Costin (Mar-Cos) hatten sich einst bemüht, einen Rennwagen straßentauglich zu machen. Fastback GT, also ein Gran Turismo mit Fließheck, was bedeutet, man kann etwas mehr als bloß eine Zahnbürste einpacken, wenn es auf eine weitere Strecke geht.
Der Capri, das Euro-Pony, na, das muß meist auch erklärt werden. In den USA war der Ford Mustang prägend für eine eigene Automobilkategorie, die „Pony Cars“: Short deck, long nose, also kurzer Hintern lange Nase. Alles klar?
Und der Escort war einer jener Meilensteine, dank derer man plötzlich kein Werksfahrer oder Millionärs-Sohn mehr sein mußte, um am Motorsport erfolgreich teilnehmen zu können. Ein talentierter Pilot mit einer leistungsfähigen Werkstatt im Rücken konnte mitmischen. So waren die Siebziger, der kurze Sommer des Automobils, die hohe Ära der Volksmotorisierung in jede Richtung.
Natürlich ist diese Ära längst vorbei und jetzt muß ich mir anhören, wie sich die Kinder jener Zeit nicht mehr einkriegen, um über Elektroautos und autonome Fahrzeuge zu schimpfen. Aber worauf wird sich in weiteren 40 Jahren die individuelle Mobilität einer ganzen Bevölkerung stützen?
Das kann heute noch niemand sagen, zumal die Entwicklungen ein atemberaubendes Tempo haben. Wir leben seit gut 200 Jahren in einer permanenten technischen Revolution. Das wirft eventuell demnächst ganz andere Fragen auf als die, ob meine Enkelkinder noch ein Lenkrad in Händen haben werden.
- Alle Fotos: Martin Krusche
- Fortsetzung: Am Schelchenberg I (Schauen, grübeln, debattieren)
- Übersicht: Maschine (Eine laufende Erzählung)
- Die Ehre des Handwerks (Eine Erkundung im 21. Jahrhundert)