Ein Mensch: Intrada#
(Wir müssen reden!)#
von Martin KruscheEs gibt mehrere Gründe, weshalb ich überzeugt bin, daß wir innerhalb der gesamten Gesellschaft und innerhalb einzelner Gemeinwesen neu klären müssen, was wir unter Conditio humana verstehen. Was ist der Mensch?
Wir sind durch eine globalisierte Wirtschaft irreversibel aus der Abgeschiedenheit alter Dorfgemeinschaften geworfen. Mittelalterliche Städte hatten (von wenigen Zentren abgesehen) eine Bevölkerung von kaum mehr als etwa zehntausend Menschen. Das ist heute der Status von Gleisdorf, der Kleinstadt, in welcher ich lebe.
Wir haben eine informationelle Umwelt, deren Nachrichtensysteme mir selbst unerhebliche Momente aus sehr fernen Ländern zuspielen. Ich komme durch weitreichende Wanderbewegungen mit Menschen und kulturellen Eigenheiten in Berührung, von denen meine Großväter bloß etwas erfuhren, wenn sie als Soldaten in den Krieg zogen.
All das hat auch einen wesentlich Reibungspunkt in der Vierten Industriellen Revolution, durch die wir mit Werkzeugen und (selbstlernenden) Maschinensystemen umgeben sind, die vieles können und manches besser können als wir Menschen.
Das hat gesamt im 20. Jahrhundert einen speziellen Hintergrund. Wir mußten über verschiedenen Formen der Tyrannei etwas stets gleiches erfahren. Die Unliebsamen wurden zuerst von Mitmenschen zu Gegenmenschen umgedeutet, schließlich zu Nichtmenschen erklärt. Dann konnte das Morden beginnen.
In meiner Befassung mit dem Kreuzweg bin ich auf eine Episode gestoßen, welche ich in diesem Sinn deute. Laut dem griechisch verfaßten Johannesevangelium hat Roms Statthalter Pontius Pilatus im besetzten Judäa den gefolterten und todgeweihten Jesus von Nazaret der Bevölkerung mit diesen Worten vorgeführt: „idoù ho ánthropos“.
Die lateinische Fassung dieser Worte dürfte auch vielen vertraut sein, die kein Latein können: „Ecce homo“. Das bedeutet: „Seht, ein Mensch“. Gerade weil der Wanderprediger durch die Folter schon als Nichtmensch behandelt worden war, verstehe ich das als einen Appell des römischen Beamten, Jesus nicht aus der Gemeinschaft der Menschen auszustoßen.
Der Auftakt#
Ich habe diese Kolumne „Ein Mensch“ zwar nun im Auftakt an einem Mann festgemacht, aber gehen Sie davon aus, daß ich recht bald eine spezielle Frau ins Blickfeld rücken werde. Ich nenne sie „Die Frau von Atlantis“. Das hat zwei wesentliche Gründe. Erstens ist unsere Unterhaltung, in der sie mir Fragen beantwortet und Einblicke gewährt, privater Natur. Zweitens ist sie ein autistischer Mensch, was bedeutet, sie ist von Geburt an physiologisch anders als ich oder unzählige derer, die im Fachjargon Neurotypische genannt werden.Die Frau von Atlantis zählt zu den Neurodivergenten innerhalb des äußerst vielfältigen Autismus-Spektrums. Ich verwende die Atlantis-Metapher, weil ich zweierlei festzustellen habe. Erstens ist sie ein Mitmensch meiner Art, aber zweitens durch ihr naturgegebenes Sosein an völlig andere Lebensbedingungen angepaßt. Das sorgt in unserer Lebenswelt unausweichlich für harte Kontraste, auch Konflikte.
Für mich liegt in dieser Verständigung eine wichtige Möglichkeit, mit Seiten des Menschseins in Berührung zu kommen, die nicht jenen Effekten unterliegen, die mir mein Alltag vorgibt, manchmal aufbürdet. Vor allem das Übel verdeckte Intentionen, die hinter Mimik, Subtext und Kontext verschleiert werden.
Menschen im Autismus-Spektrum sind dafür mehrheitlich oder gesamt nicht zu haben, denn diese Mitteilungs-Komponenten gehören offenbar nicht zu ihrem Repertoire. Damit meine ich zum Beispiel, wenn ein autistischer Mensch sagt „Das gefällt mir!“, muß diese Mitteilung nicht mehr durch den passenden Gesichtsausdruck bestätigt werden.
Der Satz besagt ja, was gemeint ist. Das und vieles mehr legt einige spannende Fragen nahe. Unter anderem die, welche Erkenntnisformen eine Frau wie jene von Atlantis zur Verfügung hat. Und ich sehe auch in diesem Zusammenhang gegeben, was ich im Kulturbereich als Paradigma betrachte: Was anderen gelingt, festigt ein Stück des Bodens, auf dem auch ich vorankomme.
- Home: Ein Mensch (Über die Conditio humana)
Weiterführend#
Diese Kolumne ist mit einigen anderen Themenleisten und Arbeitsebenen verknüpft; gemäß dem Prinzip, daß ich Aktion und Reflexion beinandergehalten sehen will. Gerade die aktuelle gesellschaftliche und kulturpolitische Situation legt das meiner Überzeugung nach nahe. Wir sollten sehr genau wissen, warum wir als Kulturschaffende tun, was wir tun, sollten das auch in Debatten argumentieren können.- Kreuzweg (Zu Fragen des Menschseins)
- Jesus von Nazaret, Tekton (Personelles)
- Official Bootleg (Eine Erzählung)