Netzkultur 1985 bis 2022#
(Wegmarken im Net Interactive Document)#
von Martin KruscheIch habe eben mit Fotograf Richard Mayr eine gemeinsame Erzählung über Klein- und Flurdenkmäler erarbeitet. Daraus wurde unter anderem ein Buch. Das erscheint in gedruckter Form, ist aber auch online nutzbar. Und zwar umgesetzt mit einer neuen Technologie, die Informatiker Hermann Maurer (TU Graz) mit seinem Team entwickelt hat. Das Kürzel NID steht für Net Interactive Documents.
Dieser aktuelle Stand im Rahmen unserer Wissens- und Kulturarbeit hat eine opulente Vorgeschichte. Mit Wissenschafter Maurer bin ich seit Jahren in laufender Kooperation. Aber das hat tiefere Wurzeln.
Schon einmal hatte ich mit einer technischen Innovation zu tun, die von Maurer und seinem (damaligen) Team entwickelt wurde. Es war ein Vorbote dessen, was wir heute „Internet-Zeitalter“ nennen. Das ergab 1985 meinen Einstieg in die Online-Welt: MUPID. In diesem Zeitfenster (1985 bis 2022) hat sich die Online-Technologie radikal verändert. Man könnte sagen, in dieser Zeit sind wir elektronisch vom Neandertal zur Schulter des Orion gereist.
Österreichische Netzkultur#
Zwischen diesen beiden Daten lag meine Virtuelle Akademie Nitscha, von der die v@n-site heute noch ihre Webadresse hat. Es war eines der ersten Netzkulturprojekte Österreichs. Die Dokumentation darüber stammt aus dem Jahr 1998: „Medium Internet und die Freie Szene: Informationsgesellschaft und Demokratiepolitik in Österreich“, eine Studie von Sabine Bauer.Mein Projekt lief nach dem MUPID-Erlebnis erst noch über ein Bulletin Bord System (BBS, wir sagten einfach: Mailbox), konnte dann – als die Zugangspreise sanken – ins WWW verlagert werden. Zitat: „Meine VAN-Site ging in der 10. Kalenderwoche 1998 online.“ in „Fasse dich kurz!“ (Netzkultur auf schmalen Bahnen)
Durch mein Faible für Chroniken ist zufällig dokumentiert, wann ich das überhaupt erste Mal online gegangen bin. Es war am Samstag, dem 5. Oktober 1985, so gegen 17:00 Uhr in einer Session, die Autor Alois Hergouth eröffnet hatte. (Er war einer der Begründer des Forum Stadtpark.) Ein „literarisches Computertagebuch“. Kurz darauf kratzte ich 20.000,- Schilling zusammen und kaufte mir meinen ersten Rechner, ein CP/M-System ohne Festplatte und mit nur einem Laufwerk.
Der Beginn#
Jene MUPID-Session fand im Rahmen des Symposiums „Gewalt und Folter“ im Grazer „Augartenkino“ statt, veranstaltet von Amnesty International. Das Kino besteht heute nicht mehr. Es wurde übrigens kurz darauf, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1985, der Ort meiner „$ubway Press Literaturnacht“, in der ich mit einem Rudel von Künstlerinnen und Künstlern bis in die Morgenstunden reihum drei Bühnen bespielt hatte.Autor Peter Köck (†) war dabei. Dramatiker Wolfgang Siegmund zog eine Absage vor, nachdem ich mit Alfred Kolleritsch einen Wickel heraufbeschworen hatte, ebenso Walter Grond. Wir rechneten mit Unruhe und ein Musiker aus unsere Truppe brachte für alle Fälle zwei „Buckel“ mit, freundliche Herren von beeindruckendem Körperbau, mit Erfahrungen im Spannungsabbau.
Kontext! Ich erwähne das, weil Köck und Siegmund davor mit mir bei der Online-Session via MUPID zugange gewesen waren. Köck hatte am 4. Oktober 1985 seine Vernissage „Schmerzonen“ absolviert: „Eine Installation von Peter Köck, Werner Jauk und Jörg Klauber“.
Klauber ist übrigens der Gestalter unseres aktuellen Buches „Wegmarken“ (2022), von dem hier noch zu reden ist. Ich hatte mir also, wie erwähnt, mit Köck und Siegmund angesehen, was eine vernetzte EDV ist und was sie kann. Hermann Maurers MUPID. Ein „Mehrzweck Universell Programmierbarer Intelligenter Decoder“.
Ich zitiere dazu Wikipedia: „Der MUPID war ein in Österreich durch den Grazer Universitätsprofessor Hermann Maurer und sein Team entwickeltes und hergestelltes Gerät, mit dem es erstmals möglich war, normale Fernsehgeräte an das österreichische, das deutsche oder das schweizerische BTX-Netz anzuschließen. Das Gerät wies einige Merkmale eines Heimcomputers auf, in der Standardausführung fehlten aber nicht flüchtige Speichermöglichkeiten (z.B. Festplatte, Diskettenlaufwerk). In gewisser Weise nahmen MUPID und BTX in den 1980ern einige Funktionen des Internets vorweg." (Quelle)
Net Interactive Documents#
Wo es um Bücher geht, eröffnet eine neue Technologie uns jetzt nächste Modi in Teleworking und Telepräsenz, während das ursprüngliche Druckwerk in seinem Gewicht unangetastet bleibt. NID ist smarter als ein PDF zum Durchblättern und kann auf vielfache Art mit anderen Inhalten verknüpft werden. Weltweit. Ich kann das für mich und privat oder auch öffentlich machen, kann Duos formieren oder Gruppen bilden, auch das, wahlweise, „pivate“ oder „public“.Maurer, Informatiker an der TU Graz, hat mit seinem Team eine technische Lösung für Publikationen im Internet entwickelt, die den alten Standard an Möglichkeiten weit überlegen ist: „NID Library is an innovative online web based publishing platform. The digital contents presented through NID library are interactive and collaboration capable. NID publishing platform extends the interactivity amongst contents, users and library systems. This next generation library system additionally present multimedia contents beyond scope of traditional books and documents adding value to book material.“ (Die Bibliothek)
Der alten Standard#
Ein Druckwerk liegt in digitalisierter Form als PDF-Dokument vor und wird so in ein System implementiert, das es mir erlaubt, die Publikation online durchzublättern. Ich kann einzelnen Seiten ansteuern und auch Links darauf setzen, mehr aber nicht.- Beispiel: „Regionale Kulturarbeit“ (Eine kleine Reflexion) von Martin Krusche
- Weiter Beispiele: Die Edition
Der neue Standard#
Die simpelste Neuerung: Sie können mitten im Text Notizen und Links anbringen, können Bilder und Töne einfügen… Und zwar in verschiedenen Modi. Privat oder öffentlich, also für alle sichtbar. Allein, im Duett oder in Gruppe.So kann etwa eine Gruppe das Dokument als Drehscheibe eines Arbeitskreises nutzen, allerhand Ergänzungen anfügen, Diskussionen führen etc., aber all das verändert die Publikation selbst nicht und ist NUR für Gruppenmitglieder sichtbar.
Regionale Wissens- und Kulturarbeit#
Dank unserer langjährigen Zusammenarbeit ermöglicht mir Maurer, diese Technologie ohne Bedingungen zu nutzen. Damit hat eine kleine regionale Kulturinitiative die Möglichkeit, so eine Innovation zu erkunden, zu erproben, wobei mir Maurer geduldig weiterhilft, sollte es wo klemmen.Ich halte das Buch nach wie vor für ein unverzichtbares Medium, dessen Rang als Kulturgut nie geschmälert wurde. Aber ich kann nun Inhalte und kollektive Arbeitsprozesse einerseits mit einem bewährten Content Management System verknüpfen, andererseits mit dieser neuen technologischen Lösung. Telekommunikation, Teleworking und Telepräsenz verzahnen sich komplementär zu den unverzichtbaren Zusammenkünften im Realraum.
Was folgt daraus?#
- Ein mehrjähriges Projekt
- mit einer Webpräsenz per Content Management System,
- wobei ein konventionelles Buch erarbeitet und publiziert wird,
- das sich mit der neuen Technologie (NID) zu einem Angelpunkt im Web entfaltet,
- also nicht bloß weltweit einsehbar ist,
- sondern verschiedene Formen der Teambildung erlaubt, und zwar
- auf Basis von Teleworking und Telepräsenz,
- die je nach Bedarf öffentlich gehalten werden können oder privat bleiben.
Damit erweitern sich unsere Möglichkeiten des Teleworking und wir haben neue Werkzeuge zur Verfügung. Ich denke, Kunst Ost ist derzeit die erste regionale Kulturformation, der es damit möglich ist, so eine Verknüpfung von Optionen zu erproben. Das bedeutet auch, unser vertrautes (aber antiquiertes) Denkmodell „Zentrum/Provinz“ ist in einem nächsten Aspekt obsolet geworden. Ich darf also für Kunst Ost redlich behaupten: Wo wir sind, ist vorne!
- Das Content Management System: Meine Projekt-Website
- Die NID-Erweiterung
Das neue Buchprojekt ist übrigens schon in Arbeit. Das bewährte Duo Krusche & Mayr zum Thema „Wir leben seit rund 200 Jahren in einer permanenten technischen Revolution“. Das beginnt sehr markant mit jenen Englandreisen des Erzherzog Johann von Österreich, als er unter anderem James Watt getroffen hat. Seither gilt für die Steiermark: Weltgeschichte berührt Regionalgeschichte.
Postskriptum: Netzkultur#
- Da gibt’s kein Dort (Über Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Provinz)
- Nette Roboter und neue Computer
Kontext#
- Volkskultur (Zwei genuine Genres)
- Prometheus (Technik: Segen und/oder Fluch?)
- Die Ehre des Handwerks (Zeit.Raum)
Auf dem Weg ins Internet#
Mailüfterl#
Hermann Maurer war als junger Informatiker Teil des Teams von Heinz Zemanek, als das „Mailüfterl“ entwickelt wurde.- Heinz Zemanek and the Curious Story of the “Mailüfterl”
- Mailüfterl-Erbauer: “Wahr ist, was funktioniert”
- Fotos: Martin Krusche
- Wegmarken (Ein kulturelles Zeichensystem)
- Prisma: eine Quest (Laufende Erzählung)