Fasse dich kurz!#
Netzkultur auf schmalen Bahnen#
von Martin Krusche
Was ich als Netzkultur kenne, wurzelt in der Telephonie. Die hat wiederum einige Seiten, an die ich nun durch die Befassung mit Twitter erinnert wurde. Mit Twitter bin ich beschäftigt, weil ich im Rahmen des Austria-Forum ein kleines Netzkultur-Experiment umsetze. Dabei bin ich freilich kein Avantgardist. Ich stehe seit Anfang dieser Online-Optionen für eher traditionelle Kommunikationsverhältnisse.
Daran haben nun über 20 Jahre Online-Präsenz nichts geändert. Im Gegenteil, ich sehe mich als Akteur eines tradierten geistigen Lebens, das sich auf Weisen ereignet, die nicht beliebig verkürzt und beschleunigt werden können. (Zugegeben, eine antiquierte Pose.) In genau diesem Zusammenhang bietet Twitter nun eine interessante Aufgabe. (Kann es bei solchen Ambitionen nützen?)
In den 1960er Jahren waren noch nicht alle Haushalte mit Telefonen ausgestattet. Im siebten Stock des Hochhauses meiner Kindertage bestanden drei Wohnungen, hatten wir also zwei Nachbarn.
Eine der Parteien blieb uns fremd, verschlossen, die andere hatte ein Vierteltelefon, das meine Eltern mitbenutzen durften. Das bedeutet, die Leute teilten sich einen Telfonanschluß mit jeweils drei anderen.
Aus jenen Tagen ist mit der Appell „Fasse dich kurz!“ in Erinnerung. Das lag vielleicht an den Telefonkosten, vor allem aber an der Tatsache, daß drei Anschlüsse stumm blieben, wenn über den vierten telefoniert wurde. (Das halbe Telefon war entsprechend teurer, der sogenannte Ganze Anschluß kam in unserem Hochhaus vermutlich nicht vor.)
Es war die Zeit, als meine Großmuter Marianne das „Jemanden anrufen“ mit „Jemanden aufläuten“ ausdrückte. Anfang der 1990er Jahre machte ich eine vergleichbare Erfahrung, mich an Fragen der Sparsamkeit zu orientieren. Es gab beim Telefonieren die zwei Inlands-Kategorien Ortsgespräch und Ferngespräch. Dazu kamen verschiedene Tarife für Auslandsgespräche.
Da ich schon früh begonnen hatte, die Online-Möglichkeiten auszuloten, wurde zum Telefon ein Modem („Modulator-Demodulator“) an die Leitung geklemmt, um meinen Computer mit anderen Rechnern zu vernetzen. (Das war die Ära unmittelbar nach den „Akustik-Kopplern“.) Darin lag übrigens die VAN begründet, die Virtuelle Akademie Nitscha. Eine webgestützte Kulturinitiative in Nitscha, in einer Gemeinde, die es heute nicht mehr gibt.
Von Nitscha aus lag anfangs der erste Einwahlknoten in Wien: Ferngesprächs-Tarif. Später wurden auch in Graz Einwahlknoten angeboten: Orts-Tarif. Die Gebühren liefen, so lange man online blieb. Es war daher auch hier empfohlen: „Fasse dich kurz!“ Dazu gab es, bevor der Online-Dienst WWW (World Wide Web) erschwinglich wurde, zum Beispiel Bulletin Bord Systems (BBS), die man mit einem sogenannten Offline-Reader bespielen konnte. Das heißt, man ging online, um den aktuellen Datei-Status runterzuladen, ging offline, um die Sachen zu bearbeiten, ging wieder online, damit die Software den nächsten Datenaustausch mit dem System abwickeln konnte.
Danach boten erschwingliche Zugänge zum WWW eine merkliche Erweiterung der Optionen. Meine VAN-Site ging in der 10. Kalenderwoche 1998 online. (Das war einem Mann namens Walerich Berger zu danken, der mir den damals noch teuren Webspace kostenlos verfügbar machte.) Davor hatte ich mit der mBox eine „Elektromagnetisches Kulturzentrum“ via BBS eingerichtet.
Das Initiatlereignis zu all dem war eine MUPID-Session im Grazer Augartenkino, gemeinsam mit den Autoren Peter Köck und Wolfgang Siegmund am 5. Oktober 1985 realisiert. (Da wußte ich, so was muß ich haben.)
Inzwischen sind die Online-Kosten auf ein unerhebliches Maß gesunken und wir haben Phänomene wie Echokammern, Filterblasen, Shit Storms und Hate Speech kennengelernt. Unsere Politik hat sich in dieser Mediensituation auf stellenweise sehr problematische Art verändert.
Es scheint mir, daß Wissenserwerb und kritische Diskurs weder online noch In Real Live besonderen Stellenwert haben. Wer seine in gereizter Stimmung eigene Meinung nicht bestätigt findet, hat neuerdings schnell den Begriff Lüge zur Hand und beklagt den Mangel an Meinungsfreiheit. Sichtbarkeit geht vor Authentizität. Es wäre natürlich Mumpitz, darüber zu lamentieren, um sich so in die netzgestützte Jammerkultur einzubinden. Solche Posen sind langweilig und unnütz.
Daher ein nächster Probelauf in Sachen Netzkultur, eine Verzweigung des Austria-Forum zum populären Mikroblogging-Dienst: „Twitter zeigt, was gerade in der Welt passiert und worüber sich die Leute unterhalten.“
Das ergänzt die ''Facebook''-Leiste und bezieht sich auf das zentrale Docuverse, dem inzwischen mit Austria-Forum LIVE auch eine Verzweigung in den „Realraum“ erwachsen ist, wo wir unter anderem prozeßhaft Richtung des 2018er Kunstsymposions von Kultur.at und Kunst Ost gehen. (Wechselspiel zwischen Cyberspace und Realraum.)
All diese Bemühungen sind nicht auf Wow-Effekte abgestellt, sondern auf eine langfristige Wissens- und Kulturarbeit, die sich als eine kollektive Kulturarbeit entfaltet.
Die Internet-Stützung hat dabei unter anderem eine spezielle Funktion. Telekommunikation, Teleworking und Telepräsenz schaffen interessante Situationen zwischen jenen Momenten, wo wir in realer sozialer Begegnung an einen gemeinsamen Tisch kommen. Auf die Art wurde das alte Denkmodell von Zentrum und Provinz hinfällig; na, besser gesagt: überwindbar. Provinz ist also dort, wo sich jemand provinziell verhält. Das ist nicht mehr an die Frage Landeszentrum oder Peripherie gebunden.
- Das Twitter-Projekt
- Siehe zu diesem Thema auch: „Da gibt’s kein Dort“ (Über Veränderungen im Verhältnis von Zentrum und Provinz)