Brandstaller Trautl#
Willkommen im persönlichen Bereich von Brandstaller TrautlSiehe auch Ihre Biographie als ehemalige Mitherausgeberin des Austria-Forums. Leider ist sie am 1. Jänner 2024 verstorben. #
QUO VADIS, SPÖ?#
Ein Versuch aus Anlass zweier Bücher führender Sozialdemokraten
Die Wahl Heinz Fischers zum Bundespräsidenten bedeutet für die österreichischen Sozialdemokraten einen doppelten Erfolg. Erstmals seit 18 Jahren wird das höchste Amt im Staat - nach den beiden ÖVP-Kandidaten Kurt Waldheim und Thomas Klestil - wieder von einem SPÖ-Kandidaten besetzt. Obwohl die Bundespräsidentenwahl eine überwiegend durch Persönlichkeiten geprägte Wahl ist, könnte der deutliche Sieg Fischers außerdem darauf hinweisen, dass die schwarz-blaue Mehrheit im Land in Auflösung begriffen ist. Alfred Gusenbauer hat fürs erste seinen Kopf aus der Schlinge gezogen, die diverse Parteifreunde bereits vorsorglich für ihn geknüpft hatten. Aber die Personaldebatte in der SPÖ ist nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Dies vor allem deswegen, weil die letzten Wahlerfolge - der Sieg Heinz Fischers, der Erdrutschsieg Gabi Burgstallers in Salzburg - zu signalisieren scheinen, dass ein attraktiver Kandidat, eine attraktive Kandidatin ausreichen, um Wählermehrheiten zu erreichen. Der Austausch von Köpfen an der Spitze (ein Spiel, das die ÖVP in ihrer langen Oppositionszeit ausdauernd und erfolglos betrieben hatte) wird allerdings nicht genügen, um bei der nächsten Wahl wieder den ersten Platz zu erobern. Die Namen, die derzeit auf der Wiener Gerüchtebörse kolportiert werden, lassen zudem heftige Zweifel darüber aufkommen, ob die SPÖ jemals die Ursachen ihres Machtverlusts ernsthaft analysiert hat. Der Mangel an grundsätzlichen Debatten führt zu ideologischen Volten wie der Koalition der Kärntner Sozialdemokraten mit Haider, die der SPÖ den letzten Rest jenes Kapitals gekostet hat, von dem sie in den letzten Jahren noch gezehrt hatte - ihre Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Jörg Haider und dessen regelmäßig auftretenden rechtsextremen Rülpser. Derzeit laviert die SPÖ zwischen alter Abgrenzungs- und neuer Anbiederungspolitik, zwischen Hoffen auf ein neues »Knittelfeld« und Staunen, dass der so oft totgesagte Haider politisch wieder einmal Auferstehung gefeiert hat.
Die Gesinnungslosigkeit, die hinter diesem Schleuderkurs steckt, ist einer Partei mit so großen Traditionen und die Geschichte des Landes prägenden Persönlichkeiten unwürdig. Alfred Gusenbauer hat kein leichtes Erbe aus der Ära Vranitzky-Klima angetreten, wie der folgende Essay nachzuweisen sucht. Dennoch ist die derzeitige Orientierungslosigkeit der SPÖ auch ihm selbst vorzuwerfen. Er hat es verabsäumt, die Ursachen für den Machtverlust zu analysieren und aufgrund dieser Analyse Strategien für die oppositionelle Arbeit zu entwerfen. In erster Linie inhaltliche Positionen für eine erneuerte Sozialdemokratie und erst in zweiter Linie strategisch-taktische Überlegungen für Koalitionen. Die derzeitige Botschaft »Wir sind offen für alle« bedeutet nichts anderes, als dass das primäre Ziel der SPÖ ihre Rückkehr an die Macht ist - egal um welchen Preis. Woher rührt die politische Ideen- und Prinzipienlosigkeit einer Partei, die fast eine Generation lang Österreich geprägt hat? Ist es das »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«, wie es Ralf Dahrendorf schon in den siebziger Jahren prognostizierte? Das sozialdemokratische Jahrhundert gehe zu Ende, weil ein Großteil der politischen Versprechungen des Sozialismus erfüllt seien, der Sozialismus sich zu Tode gesiegt und selbst eine Gesellschaft herbeigeführt habe, in der neue Liberalität und neuer Individualismus sich schlecht mit dem alten Staat der Fürsorge und Bevormundung vertrügen. Ist es der Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, von den einen als »neoklassisch«, von den anderen als »neoliberal« oder »neokonservativ« bezeichnet, der nach US-amerikanischem Vorbild den Staat in die Rolle des Wettbewerbswächters zurückdrängt und das nach 1945 erarbeitete Modell des europäischen Wohlfahrtsstaates unterminiert? Ist es der vielzitierte »Dritte Weg« Tony Blairs und Gerhard Schröders, den auch die SPÖ unter allgemeinem medialen Beifall übernahm, obwohl dieser »Dritte Weg« nichts anderes ist als eine Adaptierung der neoliberalen Glaubenssätze für den Gebrauch sozialdemokratischer Parteien, eine Art rosarote Tünche über das »neue Wirtschafts-Denken«? Oder gibt es neben solchen allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen auch noch spezifisch österreichische Erklärungsmuster für den Schrumpfungsprozess der SPÖ, die binnen 16 Jahren von 47,6 Prozent der Wählerstimmen bei der letzten Kreisky-Wahl 1983 auf 33,15 Prozent im Jahr 1999 abgestürzt ist? Die zu Jahresbeginn erschienenen Bücher zweier fast gleich alter, aber grundverschiedener Politiker, geben Anlass, über die tieferen Ursachen des SPÖ-Niedergangs nach Kreisky nachzudenken: Franz Vranitzky, Bundeskanzler von 1986 bis 1997, verfasste sechs Jahre nach seinem Rücktritt »Politische Erinnerungen« (Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004) und der am 25. April zum neuen Bundespräsidenten gewählte Heinz Fischer liefert mit »Wendezeiten« einen »österreichischen Zwischenbefund« (Kremayr & Scheriau/Orac Wien 2003). Österreich im Jahr 1986 - das war die Republik, die von Skandalen gebeutelt wurde: die Verstaatlichte Industrie schlitterte in finanzielle Debakel, Waffengeschäfte einer Tochterfirma brachten den Innenminister ins Gerede, Kurt Waldheim gewann die Bundespräsidentenwahl, obwohl die SPÖ unter der Führung von Sinowatz dessen »braune Flecken« zum Wahlkampfthema gemacht hatte. Und Jörg Haider startete auf dem Innsbrucker Parteitag der FPÖ zu einer Siegesserie, die erst 2002 gestoppt wurde.
Der Rücktritt von Fred Sinowatz eröffnete Vranitzky, dem seit 1984 eher farblos agierenden Finanzminister, den Weg an die Spitze zunächst der Regierung, dann der Partei. Sinowatz, der in den Traditionen der Arbeiterbewegung aufgewachsene Kroate aus dem Burgenland, hatte das Amt des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers nur unwillig von Kreisky übernommen und sich ständig durch das übergroße Vorbild überfordert gefühlt. Bei seinem Rücktritt als Parteivorsitzender 1988 warnte der auch heute noch unterschätzte Sinowatz die Partei geradezu prophetisch vor der »neokonservativen Welle«, die die Errungenschaften des Sozialstaates wegzuspülen drohe. Warum Sinowatz Franz Vranitzky zu seinem Nachfolger bestellte, wurde nie offen diskutiert. Vermutlich waren es das telegene Aussehen, die sportliche Statur und die smarten Managerallüren - Qualitäten, die Sinowatz abgingen -, die letztlich den Ausschlag gaben. Vranitzky startete seine Karriere als Kanzler mit dem Bruch der Kleinen Koalition und Neuwahlen, die der SPÖ zwar 4,5 Prozent der Wählerstimmen und zehn Mandate kosteten, ihr aber dennoch einen gesicherten ersten Platz einbrachten. Die schwarz-blaue Koalition wäre sich rechnerisch schon 1986 ausgegangen, Alois Mock hatte sie seinem Parteivorstand auch vorgeschlagen, war aber auf entschiedenen Widerstand der Wirtschaft gestoßen. Industrie und Gewerbe sahen in den Sozialdemokraten damals noch verlässlichere Partner als im unberechenbaren »Robin Hood aus Kärnten«. Der »Banker« an der Spitze der SPÖ wurde zudem als ein Signal interpretiert, dass die Sozialdemokraten ihren alten politischen Zielen Gleichheit und Solidarität zwar nicht abschwören, aber doch pragmatisches Wasser in den ideologischen Wein gießen würden.
Biographie und berufliche Karriere des damals knapp 50jährigen Vranitzky rechtfertigten solche Erwartungen. Der Sohn eines kommunistischen Eisengießers hatte sich früh entschlossen, sich weniger mit Politik als mit seinem beruflichem Aufstieg zu beschäftigen. Statt an den Fraktionskämpfen der sozialistischen Studenten (wo sich Anfang der sechziger Jahre Hannes Androsch als »Rechter« und Heinz Fischer als »Linker« bekriegten) nahm er lieber an Basketball-Turnieren teil (wo er bis in die Nationalmannschaft aufrückte). Statt seine Zeit in Diskussionen über Existentialismus und moderne Kunst zu verschwenden, büffelte er lieber für seine Prüfungen auf der Hochschule für Welthandel, wie die Wirtschaftswissenschaftliche Universität damals hieß. Die 454 Seiten umfassenden Erinnerungen Vranitzkys erwähnen keinen Buchtitel, keinen Autor, die ihn im Lauf seiner Karriere beeindruckt oder gar beeinflusst hätten.
Unbelastet von ideologischen Kontroversen, mehr interessiert an Wirtschafts- und Finanzfragen als an größeren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, ging er daran, den »Scherbenhaufen, den uns Kreisky hinterlassen hat« (so Vranitzky in einem seiner ersten Interviews), wegzuräumen. Auch wenn man konzediert, dass die SPÖ unter Kreisky die Krise der Verstaatlichten Industrie in ihren Ausmaßen unterschätzte und zu lange am Prinzip der staatseigenen Industrie festhielt, überraschte die Wortwahl des neuen SPÖ-Vorsitzenden, der ja schließlich seit 1971 im Büro des damaligen Finanzministers gearbeitet hatte und als späterer Direktor der Länderbank selbst Teil des verstaatlichten Sektors gewesen war. Der mediale Erfolg dieser grobschlächtigen Distanzierung von Kreiskys Politik war überwältigend. Die ÖVP, die schon immer von »Scherbenhaufen« geredet hatte, fühlte sich in jahrelanger Kritik bestätigt. Manche konservativen Kreise, vor allem Industrielle, wünschten sich gar Vranitzky als besseren Obmann für die ÖVP, der es ja an attraktiven Wirtschaftsmenschen fehlte, und verglichen ihn mit Helmut Schmidt, der auch der »richtige Mann in der falschen Partei« gewesen sei. Den Bruch mit der Ära Kreisky vollzog Vranitzky auch personell. Androsch, Blecha, Gratz, verwickelt in diverse Skandale (Stichworte Noricum und Lucona), verließen die Bühne ebenso rasch wie andere, die keine Prozesse auszutragen hatten. Binnen weniger Monate hatte Vranitzky das Präsidium der SPÖ fast zur Gänze ausgetauscht - aus der Ära Kreisky überlebten nur Johanna Dohnal und Ferdinand Lacina, der zwar dem Parteipräsidium nicht angehörte, aber Vranitzkys treuer Vasall in der Finanzpolitik blieb. Heinz Fischer, der alle Parteikonflikte der SPÖ seit den sechziger Jahren - von Olah im Jahr 1964 bis Kreisky/Androsch von 1978 bis 1981 -überlebt hatte, überlebte auch diesmal - als Klubobmann im Parlament. So erfolgreich diese Aktionen Vranitzkys in den Medien ankamen (Vranitzky, der Saubermann, der den SPÖ-Sumpf säubert, ein Herkules im Augiasstall der Sozialdemokratie), so verunsichert reagierte die sogenannte »Basis«, also die 20- bis 30.000 Funktionäre, die trotz schwindender Mitgliederzahl noch immer das organisatorische Rückgrat der Partei bilden. Der Paradigmenwechsel, die neue Orientierung der Partei in Richtung Privatisierung der Verstaatlichten Industrie, der Vorrang für Effizienz und Gewinnmaximierung vor der Sicherheit der Arbeitsplätze, der Totalwechsel des Personals kamen einem innerparteilichen Erdbeben gleich, einem Erdbeben, das niemand vorhergesagt hatte und dessen Auswirkungen niemand erkannte. Wer einen solchen Schwenk in der Politik vollzieht, muss ihn seinen Wählern und Mitgliedern erklären. Die geknickten roten Nelken, die VOEST-Arbeiter Vranitzky bei einem Werksbesuch in Linz überreichten, waren mehr als ein Symbol. Sie hätten für eine sozial sensible Parteiführung ein Alarmsignal sein müssen. Ein Teil der Arbeiterschaft begann sich innerlich von der SPÖ zu entfernen. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass der größte Anteil an den damaligen Stimmengewinnen der FPÖ aus dem Reservoir älterer, aber auch junger Arbeiter kam. Verstärkt wurde diese wachsende Entfremdung Vranitzkys vom Milieu sozialistischer Stammwähler durch den Lebensstil und das soziale Umfeld, in dem sich der Kanzler und seine Frau bewegten. Auftritte auf Golfturnieren und anderen »Society Events«, bei denen sich Vranitzky immer häufiger mit führenden Industriellen und Werbemanagern umgab, machten den Kanzler und seine Entourage zwar zum Liebling der »Seitenblicke«-Gesellschaft (einer TV-Sendung, die der ORF 1987 kreiert hatte), wurden von traditionellen SP-Wählern aber weniger goutiert. Hatte man Kreisky seine Marotten für Maßschuhe und englische Anzüge als altem Großbürger verziehen, nahm man Vranitzky seine neureichen Allüren krumm. Nicht »der Nadelstreif« war es, der die Arbeiter und kleinen Angestellten störte, sondern die neue »Arroganz der Macht« bei einem, der aus dem Arbeitermilieu kam, sich zu dieser seiner Herkunft aber nicht bekannte. Während Vranitzky innenpolitisch zunächst als Saubermann und Vertreter der neuen, antitraditionalistischen Sozialdemokratie punktete, profitierte er außenpolitisch von der Isolation des neugewählten Bundespräsidenten Waldheim. Da dieser nicht nur von den USA auf die »Watchlist« gesetzt, sondern auch von zahlreichen anderen Staaten im Schlepptau der USA »geschnitten« wurde, hatte Vranitzky leichtes Spiel mit ausländischen Einladungen, bei denen er, mit hervorragendem Englisch und international geschliffenen Manieren, gute Figur machte. Die Vertretung der Republik nach außen war ihm, der sich für Außenpolitik nicht allzu sehr interessierte, quasi in den Schoß gefallen. Repräsentative Aufgaben lagen ihm eher als inhaltliche Kontroversen, bei denen er Alois Mock kaum Paroli bot.
Dass er die Außenpolitik bei den Regierungsverhandlungen an die ÖVP abgetreten hatte, führte zum großen Konflikt mit dem Ehrenvorsitzenden Bruno Kreisky - einem Konflikt, der nur an der Oberfläche ausgeräumt wurde. Berühmt wurde Kreiskys Anleihe bei Oscar Wilde, als er Vranitzky zur »Sphinx ohne Rätsel« ernannte. Wichtigster Streitpunkt zwischen SPÖ und ÖVP war die Europapolitik, bei der die Sozialdemokraten traditionell auf der Bremse standen, um den »russischen Bären« nicht zu reizen. Das Festhalten an der Neutralität, das die SPÖ bis heute zu ihrem politischen Mantra gemacht hat, diente als Hauptargument gegen einen möglichen Beitritt Österreichs zur damaligen Europäischen Gemeinschaft. Erst Gorbatschows Reformkurs ließ Vranitzky auf einen Pro-Europa-Kurs umschwenken.
Auch dieser Schwenk wurde nicht ausreichend politisch kommuniziert. Um eine grundlegend positive Europa-Stimmung in Österreich zu erzeugen, hätte es intensiver politischer Aufklärung, österreichweiter Diskussionen in den Medien, Aufzeigen von Vor- und Nachteilen für die verschiedenen Regionen und Branchen bedurft. Als die Meinungsumfragen Ende 1993 ein sehr gespaltenes Bild - 50 Prozent pro, 50 Prozent contra EU - zeigten, verzichtete Vranitzky auf diesen mühsamen Prozess der Information und Aufklärung und verließ sich statt dessen auf die Unterstützung der »Kronen Zeitung«. Nach einem Abendessen Vranitzkys mit Dichand gab die »Krone« von Jänner bis Juni 1994, also bis zur Volksabstimmung, ihre europakritische Haltung auf und warb massiv für den Beitritt Österreichs zur EU. Zweiter und ebenso nachhaltiger Streitpunkt: der Umgang mit den kommunistischen Nachbarländern und den dort in Gang befindlichen Veränderungen, an deren Spitze Menschenrechtsgruppen und Dissidenten standen. Politiker wie Erhard Busek hatten seit Ende der Siebziger Jahre mit diesen Gruppen Kontakte aufgebaut, die SPÖ verharrte mit wenigen Ausnahmen bei ihren traditionellen Beziehungen zu den regierenden Kommunisten. Durch die internationale Presse ging die Episode des Vranitzky-Besuchs in Prag im Frühling 1989. Während alle Welt wusste, dass der eben aus dem Gefängnis freigelassene Vaclav Havel vermutlich binnen kurzem eine wichtige Rolle in seinem Land spielen würde, vermied Franz Vranitzky jeden persönlichen Kontakt und schickte nur eine hochrangige Beamtin in Havels Wohnung. Eine Episode, gewiss, aber eine Episode, die Vranitzkys mangelndes Sensorium für politische und gesellschaftliche Trends dokumentierte und deren Auswirkungen weit hineinreichen in die gegenwärtigen Einstellungen der Sozialdemokratie zum Thema Osterweiterung und zu den neuen Nachbarschaftsbeziehungen. Der Epochenbruch des Jahres 1989, die Implosion des kommunistischen Systems, war von keinem Politiker vorhergesehen worden. Die Reaktionen auf den »annus mirabilis« waren dennoch höchst unterschiedlich. Während Kreisky in seinem letzten Lebensjahr bedauerte, nicht zehn Jahre jünger zu sein, und ein »grand design« für die Ostpolitik forderte, um die historischen Prozesse mit zu gestalten, strapazierte Vranitzky in einer Live-Sendung des ORF anlässlich des Falls der Berliner Mauer das Mikado-Spiel als Vergleich mit dem alten Gleichgewicht zwischen West und Ost. Von »grand design« war da nichts zu spüren.
Keine Leitlinien für die veränderte politische Großwetterlage, keine Visionen für ein neues Europa entwickelt zu haben, sollte sich in den künftigen außenpolitischen Debatten bitter rächen. Dort blieb die SPÖ in der Ära Vranitzky und danach eine von ÖVP und FPÖ Getriebene, statt selbst zum Motor der Veränderung zu werden. Visionen waren Vranitzky nicht nur fremd, er verspottete gern auch jene, die Visionen forderten. Berüchtigt wurde sein Ausspruch »Wer Visionen hat, braucht einen Arzt«, den er später immer wieder dementierte, als der Mangel an Visionen zum Markenzeichen seiner Politik zu werden drohte. Den im Magazin »profil« zitierten Dialog auf dem SP-Parteitag 1988 zwischen Heinz Fischer »Die SPÖ braucht eine Vision!« und dem Kanzler »Wer Visionen hat, braucht einen Arzt!« korrigierte er nicht. Im Gegenteil, im darauffolgenden Ministerratsfoyer verstärkte er seinen Spruch noch: »Euphorien treten, medizinisch gesehen, erst knapp vor dem Tod auf. Und Visionen sind vielfach das, was Lacina (damals Finanzminister) heute bezahlen muß!« (zitiert nach Hubertus Czernin »Der Haidermacher«, Ibera & Molden Verlag, Wien 1997). Um seine Abkehr von Kreiskys Politik zu signalisieren, war ihm jeder Anlass recht. Für Heinz Fischer war dieses Geplänkel übrigens eine der wenigen Auseinandersetzungen mit Vranitzky. Danach hielt sich der Klubobmann, der schon 1979 zum stellvertretenden Partei Vorsitzenden gewählt worden war, mit jeglicher offenen Kritik zurück, obwohl ihn intellektuelle Ausstattung und lange innerparteiliche Karriere (vom Verband der Sozialistischen Studenten direkt in den Parlamentsklub der SPÖ) zum kritischen Kontrahenten Vranitzkys geradezu prädestiniert hätten.
Angetreten war Franz Vranitzky mit der Ankündigung eines Modernisierungs- und Reformschubes für Österreich. Meinungsforscher und Politologen hatten Mitte der achtziger Jahre ein Phänomen ausgemacht, das bald unter dem Etikett »Politikverdrossenheit« die Medien eroberte. Der Streit um das Kraftwerk in Hainburg, die Aubesetzung im Dezember 1984, die darauffolgenden Diskussionen über Energiepolitik, Umweltpolitik und direkte Demokratie, die Entstehung einer neuen, »grünen« Partei hatten gezeigt, dass die Zweite Republik an einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung angelangt war. Noch war die wirtschaftliche Situation zufriedenstellend, noch funktionierten die traditionellen Institutionen, aber im Gebälk der Republik knirschte es erstmals. Die ersten Wellen der wirtschaftlichen Globalisierung schlugen an die »Insel der Seligen«, Betriebe spürten den verstärkten internationalen Wettbewerb, die Schranken einer großteils anachronistischen Regulierungstradition bremsten Wachstum und Unternehmensgründungen.
Die rasante Änderung der weltwirtschaftlichen Verhältnisse, die neuen Informationstechnologien und der international wirksame politische Druck auf Liberalisierung und Wettbewerb, auf Abbau von Subventionen und Zurückdrängung des staatlichen Einflusses konnten vor Österreich nicht halt machen. Modernisierung und Reform waren die Slogans der achtziger Jahre - in allen politischen Lagern, bei Soziologen, Ökonomen und Politologen.
Vranitzky erkannte den Bedarf an Modernisierung und Reformen, er kündigte in zahlreichen Interviews immer wieder Modernisierung und Reformen an - »Handlungsbedarf« avancierte unter Vranitzky zum Modewort. Es blieb beim Bedarf, gehandelt wurde wenig. Schon der Wahlkampf 1990, der mit dem Slogan »Die Qualität des Handelns« (vom damaligen französischen Trendguru Seguela) geführt wurde, animierte hauptsächlich die Kabarettisten.
In der politischen Realität scheiterten fast alle Reformprojekte. Als positive Ausnahme ist die Privatisierung der Verstaatlichten Industrie zu vermerken, die Vranitzky gegen die Mehrheitsmeinung in Partei und Gewerkschaften durchsetzte. Schon das zweite Ziel, eine neue »Gründerzeit« einzuleiten, neue Betriebe in den Wachstumsbranchen der Informationstechnologie zu gründen und ausländische Unternehmer ins Land zu holen, wurde nur in geringem Ausmaß erreicht. Die einzige Ausnahme, die Vranitzky in seinen Erinnerungen erwähnt, ist Frank Stronach mit seinem Unternehmen »Magna« - in dessen Aufsichtsrat Vranitzky übrigens bis heute sitzt. Auch die für eine neue »Gründerzeit« erforderliche, vielzitierte »Bildungs- und Forschungsoffensive« blieb in Rhetorik stecken. Die Budgetansätze stiegen nur unmerklich, vor allem fehlte es aber an einem organisatorischen Konzept, eine solche Initiative in Gang zu bringen.
Wo sich Widerstände auftaten, wich Vranitzky zurück. Als ob es je eine Politik ohne Konflikte und ohne Interessenkollisionen geben könnte. Der von den Medien immer noch hofierte Kanzler gefiel sich zunehmend in der Rolle des »Moderators«, als eine Art höhere Instanz, die über dem Streit der Parteien und kleinlichen Interessenkonflikte steht und dafür sorgt, dass die Streitenden einander nicht in die Haare geraten. Politik wurde nicht mehr gemacht, sie »geschah« - als Vollzug angeblicher Sachzwänge und Folge internationaler Entwicklungen.
Mit der Wunschvorstellung einer konfliktfreien Politik blieb das große Projekt der Modernisierung schon in den ersten Jahren auf der Strecke - es gab weder eine wirtschaftliche Aufbruchsstimmung noch eine Beseitigung des Proporzsystems. Die Modernisierung der Demokratie wurde mit einer Wahlrechtsreform versucht, die das Persönlichkeitswahlrecht stärken und damit die Auswahl der Abgeordneten verbessern sollte. Als die Reform - naturgemäß, würde Thomas Bernhard sagen - auf den Widerstand der nach altem Wahlrecht gewählten Mandatare stieß, wurde sie so weit verwässert, dass von Reform nicht mehr die Rede sein konnte. Die Volksbefragung wurde eingeführt, doch kein einziges Mal in der Praxis angewandt. Die sich schon damals abzeichnende Notwendigkeit, das Pensionssystem wegen des steigenden Lebensalters und der sinkenden Kinderzahl zu adaptieren, wurde zwar erkannt. Schritte in Richtung einer umfassenden, langfristigen Reform aber nicht gewagt. Einzige Ausnahme: die Einführung von Durchrechnungszeiten für alle Pensionen. Die heute zu Recht geforderte »Harmonisierung«, also ä la longue ein einheitliches System für alle, war damals nicht einmal ein Gedankenexperiment.
Zuzugeben ist, dass die sozialistischen Gewerkschafter Modernisierung und Reformen nicht gerade erleichterten. Auch hier wären - ebenso wie beim Thema Privatisierung - Dialog und Debatten erforderlich gewesen. Die Abkanzelung der Gewerkschafter als »Steinzeitsozialisten« mag bürgerlichen Kommentatoren wohl anstehen, dem Vorsitzenden einer sozialdemokratischen Partei bleibt es nicht erspart, Widerstände gegen seine Politik durch Gespräch und Diskussion zu überwinden. Kreiskys Verhältnis zu Anton Benya war, wie man weiß, nicht frei von anfänglichen Animositäten und Spannungen, die im Lauf von 13 Jahren der Kooperation zweier sehr verschiedener Temperamente und Charaktere Platz machten. Vranitzky respektierte gerade noch Anton Benya als Seniorchef des ÖGB, zu dessen Nachfolger Fritz Verzetnitsch hielt er frostige Distanz, eine Distanz, die sich im Lauf seiner Amtsjahre noch vergrößerte.
Nicht überall war der Widerstand der Gewerkschaften auf mangelnden Reformwillen zurückzuführen. Es gab Bereiche, in denen dieser Widerstand sachlich berechtigt und politisch verständlich war, so als Vranitzky und sein Finanzminister Lacina handstreichartig die Vermögenssteuer abschafften und ein neues Stiftungsrecht einführten, beides eindeutige Begünstigungen für die Reichsten im Lande, die mit ansonsten drohender Kapitalabwanderung begründet wurden. Die Einwände der
Gewerkschaftsfraktion gegen diese »Umverteilung nach oben« führten zum heftigen Konflikt mit der Regierung, wobei der dünnhäutigere Lacina das Handtuch warf. Vranitzky erwähnt diesen Konflikt mit den Gewerkschaften in seinen Erinnerungen nur am Rand (»Der Haussegen zwischen Lacina und den Gewerkschaftern hing schief«), er begründet seine steuerrechtlichen Maßnahmen auch nicht. Statt dessen mokiert er sich über den Begriff »Verteilungsgerechtigkeit«, »der in keinem sozialdemokratischen Pflichtenhefl vermerkt« sei.
Dialog und Debatte waren nicht Vranitzkys Stärke. Seine Bank-Karriere hatte ihn geprägt. Im Vorstand einer Bank wird nicht diskutiert, da werden Geschäftsziele vorgegeben und Erfolgsbilanzen gezogen. Vranitzky führte SPÖ und Regierung wie ein Bankdirektor. Längere Debatten waren ihm physisch unangenehm, lästige Tagesordnungspunkte überging er. Wer zu oft Fragen stellte, wurde unwirsch abgefertigt. Die schon aus Traditionsgründen nicht gerade diskussionsfreudige SPÖ (der Einheitsmythos der Ersten Republik wirft bis heute lange Schatten) verfiel in einen Zustand intellektueller Lähmung.
Dem Führungsstil Vranitzkys entsprach auch seine Personalpolitik. Zuviel Farbe, zuviel Eigenständigkeit, zuviel individuelle Meinung waren nicht gefragt. Wann immer Regierungsmitglieder ausgetauscht wurden, rückten an die Stelle ausgeprägter Persönlichkeiten solche mit schwächerem Profil. Das »Gesetz vom absteigenden Mittelmaß« nannte dies der 2003 verstorbene Ökonom und Sozialwissenschafter Egon Matzner, der unter Kreisky 1978 die Programmdiskussion geleitet hatte, zu späteren Programmdiskussionen aber nicht mehr herangezogen wurde.
Das Steckenbleiben der Reformprojekte, die sich langsam ausbreitende Stagnation, die nicht allein der SPÖ, sondern der gesamten Koalition vorzuwerfen war, begünstigte den Aufstieg Jörg Haiders, der von Wahl zu Wahl an Stimmen und Mandaten zulegte: er startete 1986 mit 9,73 Prozent, erreichte 1990 16,63 Prozent, 1994 22,5 Prozent, 1995 21,9 Prozent (die Wahl, die Schüssel mutwillig vom Zaun gebrochen hatte, brachte erstmals ein Minus für die FPÖ und ein leichtes Plus für die SPÖ) und 1999 26,91 Prozent.
Auf den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug Haiders reagierte Vranitzky, aber auch die übrige Parteiführung mit einem einzigen Stereotyp: Mit Haider könne man sich nicht an einen Tisch setzen, man müsse sich von ihm »abgrenzen«. Die »Abgrenzung« von Haider war notwendig und vernünftig, wo der FPÖ-Obmann mit Sprüchen wie der »ordentlichen Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches«, mit Reden wie der in Krumpendorf vor SS-Veteranen, mit Besuchen bei Saddam und Vergleichen von Diktatoren die alte Nazi-Klientel bediente oder mit Hetze gegen Ausländer eine »neue Rechte« fütterte. Dass Haider jenseits seiner diversen Ausritte in Richtung alter und neuer Nazis auch berechtigte Kritik an politischen Missständen im allgemeinen (z. B. Schulproporz), an Missständen in SP-nahen Institutionen im besonderen übte, wurde vernachlässigt.
Statt sinnvolle Vorschläge aufzugreifen (z. B. die Zahl der Sozialversicherungsanstalten zu reduzieren) oder eklatante Fehlentwicklungen (Doppel- und Dreifachgehälter von Kammer- und Gewerkschaftsfunktionären, Mehrfachpensionen von Direktoren der Verstaatlichten Industrie) abzustellen, entwickelte die SPÖ unter Vranitzky den Totstellreflex. Haiders Kritik wurde »nicht einmal ignoriert«. Statt sich mit konkreten Kritikpunkten auseinanderzusetzen, stilisierte die SPÖ Jörg Haider zum gefährlichen Feindbild hoch, zum »NS-Schatten über Österreich«. Der Kampf gegen Haider ersetzte alle Analysen des gesellschaftlichen Wandels, der Österreich Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre erfasste. Dass mit dieser »hysterischen Dämonisierung« (Rudolf Burger) auch die Haider-Wähler zu potentiellen Nazis gestempelt wurden, übersahen die Parteistrategen. Wie die Wahlen unter Vranitzky und seinem Nachfolger Klima zeigten, war der Haider-Ausgrenzungsstrategie kein Erfolg beschieden.
Parallel zur »Ausgrenzung« Haiders versuchte Vranitzky Österreichs seit Waldheim angekratztes Image im Ausland zu reparieren. Das Einbekenntnis, dass Österreich nicht nur Opfer war, dass Österreicher auch Mittäter im Dritten Reich waren, war überfällig, erfolgte aber doch in einem recht merkwürdigen Zusammenhang. Der logische Zeitpunkt für eine solche Erklärung wäre der März 1988 gewesen, also jenes »Ge- und Bedenkjahr«, das im Zuge der Waldheim-Diskussionen ausgerufen worden war. 50 Jahre nach dem Anschluss, den im übrigen auch sozialdemokratische Politiker wie Karl Renner feierlich begrüßt hatten, stand es einem sozialdemokratischen Kanzler gut an, auch Fehler seiner eigenen Partei einzubekennen. Diesen logischen Zeitpunkt vermied Vranitzky. »Die Zeit war noch nicht reif«, meint er dazu in seinem Buch. Erst drei Jahre später, im Juli 1991, gab er im Parlament eine Erklärung zum Krieg in Jugoslawien ab, in die er überraschend und historisch ziemlich unpassend die Schuld und Mitverantwortung von Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reichs einpackte. Noch größere internationale Beachtung fand seine die Rolle Österreichs betreffende Erklärung in der Knesseth, dem israelischen Parlament. So verspätet und notwendig diese Erklärungen waren, so problematisch wirkte sich die Auseinandersetzung mit der Nazi-Mitschuld Österreichs für die Innenpolitik aus. Statt die Aufarbeitung der Vergangenheit aus dem Parteienstreit herauszunehmen und einen Konsens anzustreben, wurde das Thema »Vergangenheitsbewältigung« für den Kampf gegen Haider instrumentalisiert und damit zum innenpolitischen Spielmaterial degradiert. Eine Strategie, die bis heute nicht aufgegeben wurde.
Die Resonanz, die ihre Politik und mehr noch ihre Person in den Medien findet, wurde in den letzten 20 Jahren zunehmend wichtiger - für Politiker aller Parteien. Steigender Populismus als internationales Phänomen ist die Folge solcher Mediendominanz. Österreichs Medienlandschaft, atypisch für eine westeuropäische Demokratie, ist ein Resonanzboden der ganz besonderen Art. Extreme Konzentration der Printmedien und das Jahrzehnte währende Monopol des ORF (trotz privatem Fernsehen auch heute noch immer ein De-facto-Monopol) stellen für Politiker eine ständige Verführung dar, mit taktischen (Gesprächsbasis zur »Kronen Zeitung«) und technischen (neues ORF-Gesetz) Kniffen Medienmacht in die Hand zu bekommen.
Als Kreisky 1970/71 die absolute Mehrheit trotz überwiegend konservativ eingestellter Medien erreichte, wälzte die SPÖ jede Menge Medienpläne, die alle - mit Ausnahme eines neuen ORF-Gesetzes - scheiterten. Dreizehn Jahre lang wurde die SP-Mehrheit durch eine Doppelstrategie gehalten: Kreisky fütterte die Medien mit Tagespolitik und Personalia, gleichzeitig zogen die Regierungsmitglieder durch die Bundesländer und versuchten - auch zwischen den Wahlkämpfen - sozialdemokratische Ideen und Reformpläne unters Volk zu bringen. Mit Vranitzky änderte sich diese Informationsstrategie. Die Medien eroberten ein Monopol für Informationen, der direkte Kontakt zum Bürger trat in den Hintergrund. So gern Kreisky in der Menge badete, so ungern verließ Vranitzky sein Trockendock. Ehrlicherweise gesteht er in seinen Erinnerungen, dass er »den Leuten« (den VOEST-Arbeitern vor der Privatisierung) »nichts sagen« konnte. »Da stehe ich mitten unter ihnen, ich im Straßenanzug, sie mit ihren Schlosseranzügen und gelben Helmen: Es ist still, sie warten auf die rettende Antwort. Ich habe keine.« Bald haftete nach solchen Auftritten das Attribut der »sozialen Kälte« an ihm, das vor allem die Wiener Partei in Umlauf setzte.
Abbau von Traditionen, von »Traditionsballast«, wie es bald nur noch hieß, war eines der Merkmale der Vranitzky-Ära. Zur Krise der Verstaatlichten Industrie kam der Konkurs des »Konsum« und das Langzeitdefizit der »Arbeiterzeitung«. Vranitzky verkaufte das traditionelle Parteiorgan 1989 an seinen Freund, den Werbemanager Hans Schmid, der es binnen kaum zwei Jahren einstellte.
Ein spezielles Verhältnis entwickelte Franz Vranitzky zur »Kronen Zeitung« und deren mächtigem Herausgeber Hans Dichand. Das Blatt mit seiner Millionenauflage hatte zunächst Jörg Haider, dessen Kritik am Proporz und Parteienfilz, aber auch die später einsetzende Agitation gegen Ausländer, gegen EU und Osterweiterung unterstützt. Jörg Haider galt fast als politischer Ziehsohn des greisen Herausgebers, der sich seit Waldheim zum Schutzherrn der »Kriegsgeneration« stilisierte. Vranitzky erkannte, dass einige Wiener SP-Politiker, allen voran Helmut Zilk (»Ich dürfte nicht seine Kragenweite gewesen sein«, so Vranitzky in einer seiner wenigen emotionellen Passagen), einen intimen Kontakt zu Dichand entwickelt hatten. Sein Interesse an der Macht war groß genug, auch selber Dichands Nähe zu suchen. Die regelmäßigen Gespräche trugen beachtliche Popularitätsfrüchte: Vranitzky zierte das Silvester-Titelblatt der »Krone« als fürsorglich kochender Ehemann, seine Frau Christine durfte Charity-Aktionen für St. Petersburg bewerben. Vranitzky hatte die »Krone« für sich und seine Familie, weniger für die Partei, gewonnen.
Ein noch größeres Werbeumfeld für persönliche PR-Arbeit eröffnete das von den Brüdern Fellner 1992 neu gegründete »News«, in dem frühere AZ-Redakteure ebenso erfolgreich für den Vranitzky-Kurs schrieben wie in »profil«. Die Medienszene war von der neuen Vranitzky-SPÖ also gut abgesichert worden. Befremdlich in diesem Zusammenhang ein Zitat Vranitzkys über die Aufgaben seines Pressechefs an der »Medienfront«, die in der Verbreitung guter Nachrichten und in der »Zähmung des sogenannten Investigationsjournalismus« bestanden hätten.
Noch fehlte zusätzlicher Einfluss im ORF, der seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag samt objektiver Information, Kultur- und Bildungsauftrag unter schwieriger werdenden Wettbewerbsbedingungen erfüllte. 1994 hievte Franz Vranitzky Gerhard Zeiler, seinen kurzfristigen, von Sinowatz übernommenen Sekretär, ORF-Generalsekretär und Intendant des deutschen Schmalspurkommerzsenders RTL2, auf den Posten des Generalintendanten. Unter dem Vorwand, der ORF hätte seine jungen Zuseher verloren, ging der neue Mann an eine radikale Boulevardisierung der Information. Die Osteuropa-Berichterstattung, für die der ORF unter Gerd Bacher Renommee erlangt hatte, wurde durch die Schließung von Korrespondentenbüros auf ein Existenzminimum reduziert, der legendäre Club 2 durch Talkshows ersetzt und die eigenständige Filmproduktion des Hauses eingestellt. Kurzum: der einst europaweit angesehene Sender wurde in einen Ableger von RTL umgewandelt. Medienpolitischer Hintergrund: ein Kanal sollte privatisiert werden, der zweite mit Gebühren als öffentlich-rechtlicher Kanal erhalten bleiben. Die angestrebte Teilprivatisierung, an der sowohl RTL als auch »Kronen Zeitung« und »News« interessiert waren und für die sich Vranitzky und später Klima stark machten, hätte der SPÖ eine bleibende Mediendominanz sichern sollen. Erst als die ÖVP den medienpolitischen Braten roch, verhinderte sie die für den Verkauf notwendige Umwandlung des ORF in eine Aktiengesellschaft.
Während die SPÖ unter Vranitzkys Ägide so versuchte, ihre Medienmacht zu festigen, hatte sie übersehen, dass die Wähler bei diesen Spielen nicht mitmachten. Je mehr sich die SPÖ auf Medien und Werbegurus verließ, je mehr der Machterhalt zum wichtigsten Ziel ihrer Politik wurde, umso mehr wurde sie von den Wählern verlassen. Die mediale Entertainment-Maschine und die realen Probleme im Land (Strukturwandel durch Globalisierung, regionale Arbeitslosigkeit) klafften immer weiter auseinander. 1994 erlitt die SPÖ eine so deutliche Wählerabfuhr (minus 7,9 Prozent), dass Vranitzky seinen Rücktritt anbot, der damals - noch - nicht angenommen wurde. Erst nachdem Vranitzky zwei Jahre später den Bank-Austria-Coup durchgezogen hatte (der Kauf der »schwarzen« CA durch die rote »Bank Austria«, ein Coup, mit dem der Vranitzky-Vertraute Gerhard Randa die ÖVP überrumpelte, war wahrscheinlich der Anfang vom Ende der Großen Koalition), ließen ihn die mächtigen Wiener Sozialdemokraten nicht gerade weinenden Auges ziehen.
Vranitzky, ursprünglich als telegenes Aushängeschild zum SP-Vorsitzenden gewählt, hatte seinen Wählermagnetismus eingebüßt. Dass er in ziemlichem Alleingang, aus nie näher erörterten Gründen, Viktor Klima zu seinem Nachfolger machte, erwies sich als eklatanter Fehlgriff. Viktor Klima, ein anfangs durchaus sympathischer, wenn auch nicht sehr souverän wirkender Manager (aus der Verstaatlichten Industrie) geriet immer mehr in die Abhängigkeit seiner Medienberater, bis er schließlich als völlig unauthentische Marionette an den Fäden von Spin-Doktoren zappelte und die SPÖ in die schwerste Wahlniederlage der Zweiten Republik führte. Die SPÖ hatte die Medienmacht erobert, aber die Gunst der Wähler verloren.
Wie fassungslos die Sozialdemokratie auf ihren Machtverlust reagierte, lässt sich aus Heinz Fischers »Wendezeiten - Eine österreichische Zwischenbilanz« ablesen. Ein so routinierter Beobachter der politischen Szene, dessen historische und politologische Kenntnisse unbestritten sind, sieht in keiner Phase der Regierungsverhandlungen die Bildung einer ÖVP-FPÖ-Koalition voraus, obwohl das stete Anwachsen der FPÖ und der steigende Einfluss liberaler Wirtschaftskreise in der ÖVP schon länger auf einen möglichen Machtwechsel hingedeutet hatten. Der Appell zur »Entdramatisierung« dieses Machtwechsels wirkt sympathisch und demokratiepolitisch vernünftig, indirekt und zurückhaltend wie immer kritisiert Fischer auch Vranitzkys Abgrenzungspolitik gegenüber Haider. Dennoch steckt auch in Fischers nüchtern-buchhalterischer Chronik der »Wendezeiten« die Hoffnung, dass die SPÖ allein aufgrund der Fehler der jetzigen Regierung wieder an die Macht kommen werde. Auch Fischer verzichtet darauf, Fehler der Vergangenheit zu analysieren. Weder die Folgen der Globalisierung für Österreichs Wirtschaft noch der Wandel im gesellschaftlichen Klima, weder das Jahr 1989 und seine Auswirkungen auf die Sozialdemokratie, weder die Migration noch der europäische Integrationsprozess werden thematisiert. Fischers programmatische Perspektiven für die Zukunft lesen sich eher konventionell. Die großen Themen, die die Linke international umtreiben, der Kampf gegen den Terror, Überlegungen zu einer neuen Weltordnung, die Frage, wie man den neuen »Raubtierkapitalismus« (Helmut Schmidt) zähmt, die Frage, welche Richtung Europa einschlagen wird, kommen kaum vor. Die Wende der »Wende« erhofft er sich nicht von einer geänderten SPÖ, sondern von klüger gewordenen Wählern.
Die »Entpolitisierung der Politik«, die Vranitzky zehn Jahre scheinbar erfolgreich betrieben hatte, hat auch die Sozialdemokratie voll erfasst. Das Aufgeben klassisch sozialdemokratischer Positionen unter dem Titel »Traditionalismus«, ohne neue Positionen an deren Stelle zu setzen, die unkritische Übernahme eines »Dritten Weges«, der in allen wesentlichen Fragen dem Neoliberalismus eines Milton Friedman folgt, und die Selbstauslieferung an die auflagenstärksten Medien bedeuteten den Verlust der kulturellen Hegemonie, die die Sozialdemokratie seit den siebziger Jahren unangefochten innehatte. Auf den Verlust der kulturellen Hegemonie folgt - nach der zwingenden Logik der Politik - der Verlust der realen Macht.
Was bleibt von der Ära Vranitzky, an deren Erbe auch ein größerer Charismatiker als Alfred Gusenbauer schwer zu tragen hätte? Im Vorwort seiner Erinnerungen betont Vranitzky, dass er sich zwei politische Erfolge zugute halte: 1. die Privatisierung der Verstaatlichten Industrie und 2. den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. In beiden Punkten ist ihm voll zuzustimmen - mit der Einschränkung, dass diese beiden politischen Ziele auch von einem konservativen Politiker verfolgt worden wären.
Die zehn Jahre seiner Regierung sind eine Zeit, die kaum Spuren hinterlassen hat. Statt Österreich auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen des neuen Jahrhunderts vorzubereiten, wurden wesentliche dieser Veränderungen verschlafen. Ein verlorenes Jahrzehnt für Österreich.
Statt das Land unter den geänderten politischen Verhältnissen nach 1989 international neu zu positionieren, wurde die Neutralität zum Dogma erhoben, ohne das Dogma durch eine Neutralitäts- und Friedenspolitik zu ergänzen. Statt im Prozeß der europäischen Integration jene spezifische Rolle zu spielen, die Brüssel Österreich gegenüber seinen mittel- und südosteuropäischen Nachbarn zugedacht hatte, gab man sich mit der Rolle des Warners und negativen Propheten zufrieden. Statt Migration als eines der brisantesten Themen der Zukunft zu erkennen, reduzierte man es auf die Frage der bestmöglichen Einschränkung der Zuwandererzahlen. Statt über die Zukunft des Wohlfahrtsstaates und seine langfristige Finanzierung nachzudenken, verließ man sich auf kurzfristige Sparprogramme. Statt neue zukunftsträchtige Industrien ins Land zu holen, begnügte man sich mit Notlösungen in Notfällen. Statt eine grundlegende Reform des Schul- und Bildungssystems anzugehen, redete man sich auf den Widerstand der ÖVP und notwendige Zweidrittelmehrheiten aus. Statt die Veränderung der Arbeitswelt durch die neuen Technologien mit den Gewerkschaften zu diskutieren, qualifizierte man die Gewerkschafter als »Traditionalisten« ab. Sozialpolitik blieb ein unbeschriebenes Blatt, mit Ausnahme der Pflegeversicherung, und Frauenpolitik hielt man für ein »Orchideenthema«, einen Luxus aus den siebziger Jahren. Statt die Weiterentwicklung der Demokratie in Richtung Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft zu diskutieren, hielt man solche Diskussionen für intellektuelle Flausen.
In zehn Jahren Vranitzky verlernte die SPÖ, politische Diskussionen zu führen. Die großen Themen, mit denen Kreisky auf den Parteitagen die Funktionäre konfrontierte (man lese die Abschiedsrede Kreiskys 1987 im Wiener Konzerthaus), blieben unerörtert. Die personelle Basis, die Kreisky stets, wenn auch nicht immer mit Glück, zu verbreitern suchte, wurde immer schmäler. Als Vranitzky und seine Freunde aus der Parteizentrale verschwanden, blieb dort eine schmale Gruppe von alten Freunden aus der Sozialistischen Jugend übrig, die es seit 1999 nicht verstanden, den noch immer großen Kreis von Sympathisanten zu mobilisieren. Ideelle und personelle Auszehrung - so könnte man das heutige Erscheinungsbild der SPÖ umreißen.
Es stimmt, dass die Linke in ganz Europa noch keine Antwort auf die Globalisierung gefunden hat und dass die neoliberale Wirtschaftsideologie erst in Ansätzen (siehe die Publikationen von Joseph Stiglitz) ins Wanken kommt. Es stimmt auch, dass die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa, ob sie an der Macht oder in Opposition sind, mit ähnlichen Identitäts- und Vertrauenskrisen zu kämpfen haben. Die Diskussion über neue politische Zielvorstellungen und linke Reformprojekte steckt überall - z. B. in Frankreich oder Deutschland - erst in den Anfängen.
Das Problem der österreichischen Sozialdemokratie ist nicht, dass sie auf die großen Fragen der Politik noch keine Antwort geben kann. Ihr Problem ist vielmehr, dass sie verlernt hat, Fragen zu stellen.
Franz Vranitzky, Politische Erinnerungen. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
Heinz Fischer, Wendezeiten. Verlag Kremayr & Scheriau/Orac, Wien 2003.