Helga Maria Wolf
Kalvarienberge: Passion und Emotion (2)
Siehe auch: Essays Passion und Emotion
1 Kreuzwege
3 Heiliges Grab
Kalvarienberge als versteinertes Theater
Untrennbar mit dem Kreuzweg verbunden, manchmal synonym verwendet, ist der Kalvarienberg. Ursprünglich als Bezeichnung des Kreuzigungsortes Jesu nach dem lateinischen Wort Calvaria (Schädelstätte) gebraucht, nannte man im Spätmittelalter und Barock narrative Kreuzigungsdarstellungen in Malerei und Plastik "Kalvarienberg". Architektonisch gestaltete Nachbildungen - "Heiliger Berg" oder "Neues Jerusalem" - umfassen Kreuzwegstationen am Beginn des Weges, beim Aufstieg und auf dem Gipfel. Hauptthema ist die Hinrichtung Jesu, in erweiterter Form die Passionsgeschichte bis zur Grablegung. Den Höhepunkt bildet das Kruzifix - oder drei Kreuze - umgeben von Maria, Johannes und Maria Magdalena. Manchmal erhebt sich diese Gruppe auf der Plattform von Rundbauten, die im Inneren die Ölbergszene und die Grabkammer enthalten.
Als Betreuer der heiligen Stätten förderten die Franziskaner den Bau von Kalvarienbergen und die damit verbundenen Andachten. 1497, lange vor der Reformation, gründete der Franziskaner Bernhard Caimi, nachdem er 1481 aus dem Heiligen Land zurückgekehrt war, einen Sacro Monte. Die heiligen Stätten in Jerusalem hatten ihn derart fasziniert, dass er sie in Varallo (Italien) nahe der Schweizer Grenze, auf einem 600 m hohen Berg nachbauen ließ. Das Projekt beschäftigte Generationen namhafter Künstler. Als großer Förderer erwies sich der Mitbegründer des Mailänder Jesuitenkollegs, der spätere Heilige Karl Borromäus (1538-1584). Schließlich umfasste die Anlage 45 Bühnenräume mit 600 lebensgroßen Plastiken aus Holz oder Terrakotta und mehr als 4000 gemalten Figuren. 1650 vollendet, ist das Wahrzeichen von Varallo heute nicht nur ein berühmter Wallfahrtsort, sondern auch UNESCO-Weltkulturerbe, Touristenattraktion und ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.
Hauptmotive für die Errichtung von Kalvarienbergen waren der Ersatz einer Wallfahrt in das Heilige Land (oder Dank für die glückliche Rückkehr), Gelöbnisse nach Kriegen und Seuchen oder sichtbare Bekenntnisse zum katholischen Glauben. Oft ging der Anstoß von Jerusalempilgern aus. So heißt es über Alvaro von Cordoba, (+ um 1430), einen der ersten Förderer der Kreuzwegandacht im Abendland: "Der Wunsch entstand in ihm, ein Abbild zu haben der heiligen Orte zu Jerusalem, die er besucht hatte. Auf die eine Stelle verlegte er den Kalvarienberg, auf die andere das heilige Grab, und einen Bach, der das Tal durchströmte, nannte er den Bach Cedron." Der Dominikaner gründete 1423 das Reformkloster Scala Coeli (Himmelsleiter) in Castro del Río nahe Córdoba (Spanien), wo er Kapellen mit Bildern aus der Passionsgeschichte anlegen ließ. Ende des 15. Jahrhunderts entstanden Kalvarienberge im Freien auch in Norddeutschland. Der älteste, der Jerusalemsberg in Lübeck (1486-1493), hatte entlang einer Strecke von 1650 m sieben Stationen und endet auf einem künstlichen Hügel. Er war die Stiftung eines Ratsherrn, der 1468 als Jerusalempilger die Via Dolorosa vermessen hatte, um den Nachbau herstellen zu lassen.
In der Bretagne (Frankreich) sind die Calvaires monumentale Bildstöcke in der Landschaft, über Toreinfahrten, an Kirchen und auf Friedhöfen. Darüber schreibt der deutsche Theologe Manfred Becker-Huberti: "Als 'Land der Kalvarienberge' wird die Bretagne bezeichnet. Die 'Calvaires' sind Mittelpunkt eines heiligen Bezirkes, zu dem auch die Kirche, das Beinhaus und der Friedhof gehören. Dieser Bereich ist Zuflucht für die Lebenden und geschützter Ort für die Toten. … 'O Sünder tut Buße, so lange ihr noch lebt, denn die Toten haben dazu keine Gelegenheit mehr', steht in großer Schrift auf dem Beinhaus von St.-Thégonnec." (Frankreich) Die umfriedeten Pfarrbezirke mit den Calvaires als Mittelpunkt konzentrieren sich auf den - durch den Tuchhandel zu Wohlstand gelangten - nördlichen Teil des Départements Finistère. Die Entstehung fällt in die Zeit der Hugenottenkriege (1562-1598). Die meisten Sacri Monti baute man am Übergang von der Renaissance zum Barock, Christoph Daxelmüller betonte: "Nach dem Konzil von Trient und dessen endgültigem Bruch mit den Protestanten entwickelten sie sich zu aufwändigen Kultstätten gegenreformatorischen Geistes. … Ihre Wirkung auf die Sinne und Gefühle erzielten sie, da sie als religiöses Theatrum konzipiert waren, als Theaterräume mit prächtig freskierten Bühnenhintergründen und lebensgroßen, realistischen Terrakottafiguren mit Echthaarperücken und -bärten sowie mit Kleidern des 17. und 18. Jahrhunderts. … Die Sacri Monti entsprechen den jesuitischen Vorstellungen von der Illusionskunst, die über das Auge auf das Gemüt und damit auf die Frömmigkeit wirkt. … Das Spiel mit den Sinnen und Gefühlen prägte die gegenreformatorische Missionsarbeit."
Ein markantes Beispiel in Österreich ist der um 1700 errichtete Kalvarienberg in Maria Lanzendorf (Niederösterreich). Ein Kreuzweg führte von Wien-Wieden über Favoriten zum Kalvarienberg. Die zweite Station (Wien 10, Ecke Scheunenstraße und Georg-Wiesmayer-Gasse) besteht noch als viereckige Kapelle mit rundbogiger Nische. An Stelle des Mosaiks "Christus am Ölberg" war ein auf Holz gemaltes Bild angebracht. Es befindet sich, restauriert, im Favoritener Bezirksmuseum und trägt auf der Rückseite die Inschrift "Alter seit 1747". Der Schöpfer des Lanzendorfer Kalvarienbergs war Felix Niering, ein Fachmann für Gewölbebau und Laienbruder der Franziskaner. Nach Jerusalemer Vorbildern legte er einen künstlichen Hügel an, in und auf dem die wichtigsten Stationen mit Figuren zu finden sind: Abendmahlskapelle, Ölberg, Haus des Pilatus, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung, dazu eine Heilige Stiege und im Garten eine Auferstehungskapelle. Wenig später (1701-1707) baute Niering in gleicher Art den Eisenstädter Kalvarienberg.
Die Baugedanken des Barock bestimmten die immer reicher ausgestatteten Kalvarienberge mit Triumphbogen, Freitreppen, Heiligen Stiegen, Balustraden, Stationenpavillons, Rotunden und Kapellen. Oft bekrönte ein Gotteshaus, meist eine Wallfahrtskirche, die Anlage. In Eisenstadt ist es die Bergkirche, seit 1932 Begräbnisstätte des Komponisten Joseph Haydn, der im nahen Schloss Esterhazy gewirkt hatte. Barocke Gesamtkunstwerke entstanden, z.B. 1728 in Maria Plain (Salzburg), ab 1731 beim Stift in Heiligenkreuz, wo der dort lebende Bildhauer Giovanni Giuliani die Skulpturen schuf. Ältere Anlagen wurden erweitert bzw. vollendet, wie in Wien-Hernals (Kreuzweg 1639 eröffnet, Kalvarienberg 1714) oder Arzl in Tirol (1664 begonnen, 1770 erweitert). Doch ging im 18. Jahrhundert die Welt der Sacri Monti mit den katholischen special effects zu Ende. Nur vereinzelt wurden im 19. Jahrhundert noch Anlagen errichtet.
Kalvarienberge in Österreich (Auswahl)
Burgenland:
Bergkirche in Eisenstadt, 1701; Frauenkirchen, 1759; Lockenhaus, 1678 / 1852; Neusiedl am See, 1871; Pinkafeld, um 1748
Niederösterreich:
Aggsbach Dorf; Bisamberg, 1696; Falkenstein, 1670-1680/ 1854; Heiligenkreuz, 1731-1748, Hollenstein an der Ybbs, 1759; Kirchberg am Wechsel, Kirchschlag B.W., 1714; Lilienfeld, 1675 (größter Kalvarienberg Österreichs); Marbach an der Donau; Maria-Lanzendorf, 1699-1709; Pillersdorf, 1730; Retz, 1727; Eggenburg 1725-1729; Zwettl
Oberösterreich:
Aigen im Mühlkreis, um 1650; Freistadt, 14. Jahrhundert / 1842; Gosau, 1775; Kremsmünster, 1637; St. Martin im Innkreis; Schwertberg, 1689
Salzburg:
Maria Bühel /Oberndorf, 1720; Maria Plain, 1686-1692
Steiermark:
Bruck an der Mur; Deutschfeistritz, 1695; Graz, 1606; Leoben, 1687/1845; Sankt Margarethen bei Knittelfeld; St. Radegund bei Graz, um 1770
Kärnten:
Sankt Paul im Lavanttal; Sankt Stefan im Gailtal, 1766-1771
Tirol:
Arzl/Innsbruck, 1664/1770; Kufstein; Thaur
Wien:
Hernals, 1639/1714
Kreuzweg und Kalvarienberg in Wien-Hernals
Hernals, der für den heutigen 17. Wiener Gemeindebezirk namengebende Vorort, hatte sein Zentrum von Anfang an in der Gegend des St. Bartholomäus-Platzes, wo sich der Kalvarienberg befindet. Die seit 1135 nachweisbaren "Herren von der Als" waren Ministerialen der österreichischen Herzöge, ihr Hof stand auf einer Anhöhe gegen Süden, der Hügel war mit Wassergraben und Ringmauer umgeben. Vom 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts bildete der Weinbau die Haupterwerbsquelle der Bewohner. Nach dem Aussterben des alten Herrschergeschlechts wurde der Ort landesfürstlich und an verschiedene Herren (Roggendorf, Geyer von Osterburg, Jörger) verliehen.
Eine Pfarrkirche bestand schon im 14. Jahrhundert. Sie war - wie die heutige - dem Apostel und Märtyrer St. Bartholomäus geweiht. 1474 und 1517 erweitert, fiel sie der Ersten Osmanischen Belagerung (1529) zum Opfer. Nachdem 1587 die Freiherren von Jörger Grundherren in Hernals geworden waren, entwickelte sich die 1609 eingerichtete evangelische Pfarre zu einem Zentrum der reformatorischen Bewegung. Ihre Anhänger kamen aus Wien und Umgebung zu den Gottesdiensten, man sprach vom "Auslaufen der Lutherischen" nach Hernals. Der Grundherr holte gelehrte und berühmte Prediger aus Deutschland, denen "unzählbare Mengen" - bis zu 20.000 Gläubige - zuhörten. Den Katholiken war dies ein Dorn im Auge. Sie versuchten, Jörgers Lehensgerechtigkeit zu bestreiten und verfolgten die evangelischen Christen. Seit 1619 war Ferdinand II. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Die protestantischen Stände verweigerten ihm die Erbhuldigung, solange er ihnen nicht die privilegierte Religionsfreiheit bestätigt hätte. Unter den "Rebellen" befand sich auch der Schlossherr von Hernals, Helmhardt von Jörger (1572-1631). 1620 wurden er und seine Mitstreiter öffentlich verurteilt und "mit Leib, Ehren, Hab und Gut" dem Landesherrn als verfallen erklärt. Ferdinand II. ließ Jörger zwar nicht hinrichten, doch verlor der Freiherr seine Güter.
Schloss und Kirche von Hernals wurden im Namen des Kaisers eingezogen und dem Domkapitel von St. Stephan zuerkannt. Diesen Rat verdankte Ferdinand II. seinem Beichtvater, dem Jesuiten Wilhelm Lamormaini. Der Beschluss zum Bau des Kreuzwegs datiert vom 12. März 1639, am 24. August, dem Festtag des Apostels Bartholomäus, predigte der beste Kanzelredner jener Zeit, der Hof- und Domprediger Johann Baptist L'Abbé SJ. in Hernals. Er hatte schon 1633 zur Wiederweihe der Kirche gesprochen. Von einem weiteren Jesuiten, dem aus Belgien stammenden Carl Mussard, kam die Idee, neben der Kirche eine Heiliggrabkapelle zu bauen (1639). Der Franziskaner Pater Egydius hatte aus Jerusalem ein Holzmodell davon mitgebracht. Vom Stephansdom führte ein Passionsweg von sieben Stationen, mit fast lebensgroßen Figuren, nach Hernals. Die Länge sollte dem Jerusalemer Vorbild entsprechen.
1767 erschien die "Historische Beschreibung…" Wiens, verfasst von P. Mathias Fuhrmann, Provinzial des Paulinerordens, der 1720 die Seelsorge am Kalvarienberg übernommen hatte. Er betont, dass der Magistrat nach einem Augenschein der Errichtung der Kreuzwegkapellen zustimmte, "daß die mehr ermelten Stationes an den außgezeichneten Plätzen, weder der öffentlichen Strasse, noch denen Wasserleitungen einige Hinderung, oder Schaden bringen würden." Weiter schreibt P. Fuhrmann: "So verdienet deßwegen alles Lob der Wohl-Ehrwürdige Herr P. Carl Musart, der Löb. Gesellschaft Jesu Priester, welcher durch ein im Jahr 1638 heraus gegebenes Büchel, einigen aus denen andächtigen Wienern dahin die Anleitung gemacht, daß sie mit Einstimmung des Hochwürdigen Dom-Capitels sich entschlossen, sieben Stationes des H. Leydens Christi in fast Lebens grossen Figuren von Bildhauer Arbeit vom Schotten-Thor aus nach ersagter Pfarr-Kirche, samt einem H. Grab daselbst zu erbauen … Das Hochwürdige Dom-Capitel erbothe sich zur Erbauung des H. Grabs nach der Form des H. Grabs zu Jerusalem. Der P. Musart und andere Urheber legten auch Hand an das Werck in Verschaffung der Mittel und mehrer Gutthäter zu Erbauung der Stationen." Einer der Wohltäter war Johann Joachim Enzmilner (1600-1678), Jurist, Politiker, Bruderschaftsmitglied und eine führende Persönlichkeit der Gegenreformation. Er bat, wenige Wochen nach der Eröffnung des Hernalser Kreuzwegs, seinen Cousin Adam Eusebius von Hoyos (1587-1640) um Unterstützung des Projekts. Mussard hätte ihm geschrieben, "das ihme noch etwas an gelt dazu abgehe". Hoyos' Antwort ist nicht bekannt.
Die erste, auf Kosten des Stadtmagistrats angefertigte, Station (Christus am Ölberg) erhielt ihren Platz vor dem Schottentor. Die zweite (Christus vor Annas) besteht noch an der Alser Kirche, Ecke Schlösselgasse. Die dritte (Christus vor Kaiphas) befand sich in der Alser Straße, die vierte (Geißelung) beim Dreilauferhaus (Alser Straße 38), die fünfte (Dornenkrönung) in der Hernalser Hauptstraße, die sechste (Verurteilung) in der Haslingergasse, die Figuren der siebenten (Ecce homo) bzw. deren Kopien stehen auf dem Balkon über dem Eingang der Kalvarienbergkirche. An der Eröffnung am Vorabend des Kirchweihtages (23. August 1639) nahmen Kaiser Ferdinand III. (1608-1657), sein Bruder, der Bischof und Feldherr Erzherzog Leopold Wilhelm (1614-1662), der ganze Hofstaat und Stadtrat, sowie "ungezählte Volksscharen" teil. Kleriker des ungarischen Priesterseminars (Pazmaneum) trugen die Figuren und stellten sie in die Stationskapellen. Jede wurde geweiht, schließlich legte der Kaiser den Schlussstein zur Heiliggrabkapelle. Das Andachtsbuch "Weck- und Zeiguhr", das fast ein Jahrhundert später entstand, schildert zwei "Wunder". Am Rückweg von der Eröffnung wären die Pferde eines sechsspännigen Wagens durchgegangen, wobei ein Lakai und ein anderer junger Mann unter die Räder kamen. Doch hätten die beiden "nicht den geringsten Schaden" genommen. Ein Weingarten, dessen Besitzer Grund für eine Kapelle zur Verfügung stellte, sei als einziger von Hagelschäden verschont geblieben.
Generationenlang war Hernals das Ziel von Wallfahrten, die vom Stephansdom, der Minoritenkirche, der Universität oder St. Ulrich ihren Ausgang nahmen. Die fromme Kaiserinwitwe Eleonora (1598-1655) soll dreißigmal nach Hernals gepilgert sein. Kaiser und Bischof ließen die Kirche großzügig ausstatten, auch die Pilger spendeten für Orgel und Altäre. Papst Urban VIII. (1568-1644) verlieh den andächtigen Besuchern anno 1641 einen vollkommenen Ablass. In Büßerkleider gehüllt, schleppten sie schwere Holzkreuze oder rutschten den ganzen Weg auf den Knien. Doch heißt es auch: "Die Prozessionen, bei denen wirklich die Büßer mit einem Holzkreuz beladen den Weg nach Hernals machten, boten unlauteren Elementen Anlaß zu allerlei Unfug; man trieb, in absonderliche Bußgewänder und Larven verkleidet, zum Ärger der Gläubigen Possen während der Bittgänge, und 1674 gab es dabei sogar blutige Ausschreitungen, weshalb die Behörden von Hernals und Wien selbst um Einstellung der Prozessionen ansuchten, was auch bewilligt wurde."
Die Zweite Osmanische Belagerung Wiens (1683) führte zur Zerstörung der Heiliggrabkapelle. Danach engagierte sich die "Bruderschaft der 72 Jünger Christi" für eine Neuanlage. Bruderschaften (Zechen) bestanden in Wien seit dem 13. Jahrhundert als Vereine mit Rechtspersönlichkeit, eigenem Vermögen und periodisch gewählten Organen. Das Vermögen diente zur Unterstützung notleidender Mitglieder, zum Unterhalt eines eigenen Altars und des Kaplans, der dort für die Mitglieder Messen las. Die wichtigste religiös-karitative Bruderschaft war die Gottsleichnamszeche zu St. Stephan. Ihr Altar war der Ausgangspunkt der Prozessionen nach Hernals. Die Strecke vom Dom bis zur Heiliggrabkapelle sollte ebenso viele Schritte umfassen, wie der Leidensweg in Jerusalem. Außerdem gab es Zusammenschlüsse verschiedener Handwerker (Zünfte), Gesellen, Händler u. a. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert verloren die Handwerkerzechen ihre gewerberechtlichen Kompetenzen. Als religiöse und soziale Vereinigungen blieben sie jedoch innerhalb der Kirche wichtige Laienorganisationen, die Wallfahrten und Andachten organisierten. Die nicht fachlich orientierten Bruderschaften gingen in der Zeit der Glaubenswirren stark zurück, erfuhren aber ab dem 17. Jahrhundert (gefördert von der katholischen Geistlichkeit) neuen Aufschwung. 1783 hob Joseph II. die damals bestehenden 116 "Confraternitäten und Bruderschaften" auf und zog ihr Vermögen (799.248 Gulden) ein. Daraus entstand 1785 eine einzige Hilfsorganisation ("Die Liebe des Nächsten").
Die Mitglieder der "Bruderschaft der 72 Jünger Christi" wollten anno 1709 in Hernals einen Kalvarienberg errichten. Die wohlhabenden Bürger wandten sich mit ihrem Anliegen an das Domkapitel. Dieses schenkte ihnen den Platz neben der Kirche, damit sie das Projekt - auf ihre Kosten - verwirklichen konnten. Die Baukosten sollen sich auf 22.000 Gulden belaufen haben (nach anderen Angaben auf das Vierfache). Anders als zuvor war es kein Kreuzweg mit Stationen von der Stadt zu einer Kapelle, sondern ein künstlicher Berg, an dessen Fuß eine Kirche stand. 72 Stufen (als Allegorie der 72 Jünger) führten, entlang von zwei mal sieben Kapellen, zum Gipfel mit der Kreuzigungsgruppe. Die 14 Stationen folgten nicht dem klassischen Schema, sondern stellten (wie die jetzigen) die sieben Hauptsünden und die sieben Tugenden dar. Die ersten Wallfahrten fanden 1714 statt. Das von den Jesuiten herausgegebene Andachtsbuch "Weck- und Zeig-Uhr Der Heiligsten Stunden deß Jahr" mit 27 Kupferstichen war schon 1710 in erster Auflage erschienen, in zweiter 1714. Papst Benedikt XIV. (1675-1758) verlieh den Teilnehmern der (bis 1758 abgehaltenen) Karfreitagsprozessionen Ablässe. Sechs Priester des Domkapitels waren täglich mit Beichthören und Predigen beschäftigt. 1720 übernahm der Paulinerorden die Seelsorge, zwei Jahre später bezogen fünf ihrer Mönche ein erstes, bescheidenes Quartier in Hernals. Anlässlich eines Umbaues der Pfarrkirche wurde 1739 "bey dem Eingang zum hl. Grab eine Triumphpforten aufgericht." 1756 erhielt die Pfarrkirche ein neues Pflaster, wobei der Pfarrer einen kleinen Altar aufstellen ließ, "worunter ich den aus Stein künstlich gehauten Leichnamb Christi wie er im Grab liget, geleget habe."
1732 besuchte der deutsche evangelische Theologe und Jurist Johann Basilius Küchelbecker Wien. Er lobte den Kalvarienberg als "von Kunst gemacht" und schrieb: "Nicht weit davon ist eine kleine, aber sehr artig gebaute Capelle, und nach dem Eingang zu ist das sogenannte heilige Grab, ganz klein, daß man hineinkriechen muß. Von da gehet man durch eine Kirche, so ebenfalls gar hübsch gebaut ist, in deren Eingang ein Ecce homo zu sehen, bey welchem ein Strick henget, welcher von einem solchen, womit der Heiland gebunden gewesen, ausgegeben, und darhero von denen Vorbeygehenden fleißig und andächtig geküsset wird." Hingegen kritisiert er das Betragen der Pilger. Die jungen Männer kämen, um "theils ihre Andacht nach katholischer Art zu verrichten, theils aus Curiosité, um Frauenzimmer zu sehen".
1747 erfolgte die Grundsteinlegung des Paulinerklosters (Kalvarienberggasse 28, später Offizierstöchter-Institut bzw. Lehrerinnenbildungsanstalt). In einem halben Jahrhundert hatte die Anlage des künstlichen Kalvarienberges durch Witterungseinflüsse gelitten, Regenwasser und Erde das Kircheninnere beschädigt. 1766-1769 errichtete Josef Ritter, vermutlich nach Plänen des Hofbaudirektors Thaddäus Karner, eine neue Kalvarienbergkirche. Daneben befand sich die Pfarrkirche zum hl. Bartholomäus, in schlechtem Zustand. Im Zuge der Josephinischen Reformen wurden der Paulinerorden aufgehoben und die Bartholomäuskirche abgetragen. Patronat und Pfarre gingen auf die Kalvarienbergkirche über, die aus dem Material des alten Gotteshauses einen neuen Turm erhielt. 1822 wurden das 5. und 6. Holzrelief des Kalvarienbergs durch Nachbildungen aus Stein ersetzt.
Ende des 19. Jahrhunderts war auch diese Kirche durch das vom "Berg" eindringende Wasser renovierungsbedürftig geworden. 1892-1894 erfolgte der Umbau nach Plänen von Richard Jordan (1847-1922). Der Planer, ein Schüler des Dombaumeisters Friedrich Schmidt, zählt zu den bekanntesten Kirchenarchitekten des Späthistorismus. Er entwarf mehr als 20 Sakralbauten in Österreich und den Nachbarländern. Jordan vergrößerte das Gotteshaus, ließ den Berg abtragen und ordnete die zweimal sieben bunt bemalten Reliefs in einem gedeckten Gang um die Kirche an. Zwei Stiegen führen zur Kreuzigungsgruppe, die sich unter einer Kuppel erhebt.
Den Zyklus der 14 Reliefs kann man als Allegorie der Erlösung und Wandlung des Menschen deuten. Die ersten sieben zeigen den leidenden Jesus, der die sieben Hauptsünden auf sich genommen hat. Er büßt für Neid, Hoffart, Trägheit, Völlerei, Unkeuschheit, Geiz und Zorn. Diese negativen Strukturen werden durch Tiere symbolisiert (Hund, Pfau, Esel, Wolf, Bock, Rabe, Löwe). Im zweiten Teil repräsentiert die hl. Maria den erlösten Menschen und die Tugenden Sanftmut, Freigiebigkeit, Keuschheit, Demut, Frömmigkeit, Glaubenseifer und Liebe. Es sind keine Tiere abgebildet, sondern Putten mit Spruchbändern und Begleitfiguren.
Jene der vorletzten Station (Eifer) hat in Wien zweifelhafte Popularität erlangt. Die Besucher schlugen ihr so lange die hölzerne Nase ein, bis man diese durch einen Eisenteil ersetzte. Vom "Nägelsepperl", auch "Körberljud" genannt, der unter dem Kreuz die Nägel einsammelt, ist erstmals 1783 die Rede. Der Journalist und Theaterdichter Johann David Hanner (1754-1795) widmete ihm eine Broschüre mit dem Titel "Gespräch des linken Schächers mit dem Körberljuden in Hernals". Er legt den Kalvarienbergfiguren kritische Worte über die Wallfahrer in den Mund: "Sieh! Dort kommen schon die verhassten Poltergeister mit ihren Fähnlein und Lampeln herüber." Tätlichkeiten, wie gegen den Nägelsepperl, waren kein Einzelfall. In Lilienfeld steht am Traisenufer eine bewegt gestaltete Johann-Nepomuk-Gruppe. Der realistisch dargestellte Henkersknecht scheint den Heiligen in den Fluss zu werfen. Dies weckte den Unmut von Pilgern, die daran vorbei nach Mariazell zogen, schreibt Leopold Schmidt: "… dann peitschten manche Wallfahrer den Schergen mit Ruten, manche sollen ihn sogar mit Steinen beworfen haben. Ähnliches mag sich an manchen anderen Orten abgespielt haben. An sich erinnert diese Wallfahrersitte an die Misshandlung des 'Körberljuden' durch die Wallfahrer auf dem Hernalser Kalvarienberg."
In Hernals war diese "Wallfahrersitte" nicht der einzigen Kritikpunkt an den Besuchern. Der Weinort bildete schon vor der Errichtung des Kalvarienbergs ein beliebtes Ausflugsziel. Zur Maria Theresianischen Zeit schrieb der Berliner Journalist Julius Friedrich Knüppeln: "In der Charwoche ist die Straße mit Menschen aus den niederen Ständen angefüllt, die theils die Gewohnheit, weil es ihre Väter thaten, theils der Aberglaube, sich dadurch ein Verdienst zu erwerben, sehr oft aber auch die Gelegenheit, gegen das fünfte und sechste Gebot zu sündigen, nach Hernals führt." Aus Gründen der Moral ließ die Kaiserin die Segensandacht, die um 19 Uhr (in der Dämmerung) begann, auf 16 Uhr vorverlegen.
Joseph Richter (1749-1813), der durch seine "Eipeldauer-Briefe" berühmte Schriftsteller der Aufklärung, kritisiert unter dem Pseudonym Obermayr in der "Bildergalerie katholischer Missbräuche" anno 1784: "Fremde, die diesen Ort zum erstenmal besuchen, müssen sich nicht wenig wundern, wenn sie oben am Kalvarienberg Christus am Kreuz erblicken, und dann die unzählichen Boutiken von Würsten, Zuckerwerk, Hernalserkipfeln, wälschen Salamien, Käß und anderen Viktualien am Fuß des geheiligten Berges sehen. Wenn sie hier ein altes Weib rufen hören: Das Lied zum Leiden Christi um 1 kr. und gleich neben diesem ein anderes Weib ruft: Meine Limonien, meine Feigen um 1 kr; werden sie nicht glauben, daß auf dem Kalvarienberg Christen, am Fuß des Berges aber Heiden wohnen ?" Außerdem tadelt er die Kreuzzieherprozessionen, die zu Richters Zeit allerdings schon abgeschafft waren. Glaubt man den Zeitgenossen, so machten Bettler und "Grabennymphen" bei der "Fastenredoute" in Hernals gute Geschäfte.
Als Souvenir brachten die Wiener Hernalserkipfel - "eine eigene Art von Brot, mit Schmalz und Eiern gemacht, von denen an einem heiteren Fastensonntag viel Tausende in Hernals verkauft und gespeiset werden" - und den Kindern als Spielzeug einen "Baumkraxler" mit. Dieser, 1815 als "Männerchen mit Schiebstecken" bezeichnet, sollte an den Zöllner Zachäus erinnern, der auf einen Baum stieg, um Jesus bei seinem Einzug in Jericho besser sehen zu können (Lk 19,1-10).
Der berühmte Fastenmarkt - zwischen Aschermittwoch und Ostermontag - ist 2014 vom "Kalvarienbergfest" abgelöst worden. Es wäre ein doppeltes Jubiläumsjahr gewesen: 300 Jahre Kalvarienberg und 375 Jahre Kalvarienbergmarkt als ältester bestehender Jahrmarkt Wiens. Doch das Fachblatt "Marktnews" (Ausgabe 2/2014) meldete: "Abgesagt. Der diesjährige Kalvarienbergmarkt wurde aus Gründen mangelndem Interesses (!) der Marktkaufleute leider abgesagt." Daher entwickelten die Pfarre und der Verein Bildungsagentur eine andere, kürzere, Veranstaltung, das Kalvarienbergfest. Seither gibt es neben einigen Marktständen, Ringelspiel und Kinder-Eisenbahn mehrere Zelte, in denen man Kunstgewerbe kaufen, Handwerkern zusehen und basteln kann. Das Bühnenprogramm bietet musikalische, literarische und Kinder-Veranstaltungen. Besonders aktiv ist die Pfarre, die mit zahlreichen spirituellen und künstlerischen Angeboten das Interesse am Hernalser Kalvarienberg lebendig hält.
Die Kalvarienbergkirche erlitt 1945 durch einen Bombentreffer schwere Schäden. Die Wiederherstellung erfolgte nach Plänen des Architekten Hans Petermaier (1904-1984). Das kriegszerstörte barocke Hochaltarbild des Kirchenpatrons wurde 1962 durch "Auferstehung Christi" von Hans Alexander Brunner (1895-1968) ersetzt. Der akademische Maler schuf auch die Seitenaltarbilder (Pfingstwunder und Mariä Himmelfahrt). 1983 beschloss der Pfarrgemeinderat ein Projekt zur Kirchenrenovierung. Die Instandsetzung von Heizung und Orgel und der Umbau des Altarbereichs waren dringend notwendig. Gewölbe und Dachkonstruktion wiesen bedrohliche Schäden auf. 1989 begannen die Arbeiten, die erste Phase - bis 1998 - schloss auch den Kalvarienberg ein. Am 5. März 2000 wurde die grundlegend sanierte und restaurierte Kirche wieder eröffnet.
Quellen:
http://www.orf.at/#/ 4.6.2016
Lexikon der kirchlichen Ikonographie (LCI) 2/490
Christoph Daxelmüller: Illusionen, Ängste, Affekte. In: Michael Prosser-Schell: Szenische Gestaltungen christlicher Feste. Münster 2011. 148
K.A. Kneller SJ: Zur Geschichte der Kreuzwegandacht. München 1908
https://www.heiligenlexikon.de/BiographienA/Alvarus_von_Zamora.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Lübecker_Kreuzweg#Siebte_Station_.28auf_dem_Jerusalemsberg.29
LCI 2/489f.
Manfred Becker-Huberti: Feiern, Feste, Jahreszeiten. Freiburg 1998. 287
https://de.wikipedia.org/wiki/Umfriedeter_Pfarrbezirk
Daxelmüller: Illusionen …155
Herbert Tschulk: Wiener Bezirkskulturführer Favoriten. Wien 1985. 58
Heribert Bastel: Der Kalvarienberg in Maria Lanzendorf (Kurzinformation zur Renovierung)
LCI 2/490
https://de.wikipedia.org/wiki/Kalvarienberg#.C3.96sterreich
https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Hernals_(Vorort)
https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Jörger
Kratzmann: Der Kalvarienberg;
Emil Karl Blümml und Gustav Gugitz: Der Hernalser Kalvarienberg zur Fastenzeit. In: Von Leuten und Zeiten im alten Wien. Wien 1922, 7-21
Mathias Fuhrmann: Historische Beschreibung… Wien 1767, 2. Teil, 2. Band, S. 615 f.
Frdl. Mitteilung von Walpurga Oppeker
Kratzmann: Der Kalvarienberg. 117
Kratzmann: Der Kalvarienberg. 111 f.
https://www.wien.gv.at/wiki/index.php?title=Bruderschaften
Österreichische Kunsttopographie II/232 laut Pfarrgedenkbuch von 1764
Kratzmann: Der Kalvarienberg 119
Weck- und Zeig-Uhr Der Heiligsten Stunden deß Jahr Allen Zu dem neu-erbauten Calvari-Berg Andächtigen Wallfahrern Erstlich ; Vor das Anderte Allen jenen, welchen zu Wallfahrten nicht zugelassen, ihr Andacht zu Hauß verrichten müssen ; Und Drittens Allen jenen, die Jährlich die 24. Stund, in welchen Jesus gelitten hat, und gestorben ist, wachtsam, und andächtig verehren . Zu Diensten hervor gegeben Von der Catechetischen Bibliothec S. J. bey St. Anna in Wienn. Gedruckt bey Anna Francisca Voigtin | Voigt, Anna Francisca . 1710. [26] Bl., 398 S., 26, 3 Bl. 27 Ill. (Kupferst.) Wienbibliothek AC 11131838
Kratzmann: Der Kalvarienberg. 118 f.
Österreichische Kunsttopographie II/234
Zitiert nach Kratzmann: Der Kalvarienberg.123
Dehio Wien Wien 1996. Wien 3. Bd. 420
Kratzmann: Der Kalvarienberg. 126 f.
Österreichische Kunsttopographie II/234
http://www.architektenlexikon.at/de/264.htm
Alfred J. Ellinger: Das Bilderbuch vom Hernalser Kalvarienberg. Wien o. J.
Schmidt: Volkskunde von Niederösterreich. II/223
Blümml - Gugitz: Der Hernalser Kalvarienberg. 7 f.
https://books.google.at/books?id=rygQAAAAIAAJ&printsec=frontcover&dq=katholische+missbräuche&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiPmdGS_PTKAhWBUBoKHWSOApsQ6AEIJDAA#v=onepage&q=katholische%20missbräuche&f=false
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Helmut Kretschmer: Bezirkskulturführer Hernals. Wien 1983. 47 f
Festschrift zur Wiedereröffnung der Kalvarienbergkirche. Wien 2000