Meitner, Lise#
* 7. 11. 1878, Wien
† 27. 10. 1968, Cambridge
Physikerin, Kernphysikerin
Lise Meitner wurde am 7. November 1878 als Tochter eines Rechtsanwaltes in Wien 2, Heinestraße 27, geboren und wuchs in einem Umfeld auf, in dem Bildung und Musik eine wichtige Rolle spielten. Lise Meitner, die acht Geschwister hatte, trug schon früh durch Privatunterricht zum Familieneinkommen bei, während sie sich auf die Externistenmatura vorbereitete - für Mädchen war der Besuch höherer Schulen oder Universitäten nicht erlaubt. Mit 22 Jahren legte Lise die Matura unter besonders strengen Bedingungen am Akademischen Gymnasium ab und studierte an der Universität Wien Physik und Mathematik, u.a. bei Ludwig Boltzmann und Franz Serafin Exner, der ihr Doktorvater werden sollte.
Lise Meitner promovierte 1906 als zweite Frau mit dem Hauptfach Physik an der Wiener Universität (über "Wärmeleitung in inhomogenen Körpern") und legte anschließend die Lehramtsprüfung für Mittelschulen ab. Meitner, die dem hoch begabten Kreis junger Physiker, darunter Hans Benndorf, Gustav Jäger, Karl Przibram, Egon Schweidler und Stefan Meyer, angehörte, interessierte sich zunächst für theoretische Physik und entschloss sich nach dem Selbstmord Ludwig Boltzmanns im Jahre 1906, einige Zeit nach Berlin zu gehen, wo sie bei Max Planck, dem Begründer der Quantentheorie und späteren Nobelpreisträger, ihre Kenntnisse weiter vertiefte.
Auch an der Berliner Universität fand Lise Meitner rasch Anschluss an einen Kreis von Physikern und arbeitete besonders eng mit Otto Hahn zusammen. Nach einigen Jahren der Arbeit am Institut von Emil Fischer wurde Lise Meitner 1912 als (unbezahlter) Gast an die "Abteilung Hahn" am neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-lnstitut für Chemie aufgenommen und war bis 1915 gleichzeitig Assistentin Max Plancks. (Frauen waren an Universitäten nicht zugelassen; erst 1909 wurde in Preußen das Studium für Frauen offiziell eingeführt!)
Nachdem sie drei Jahre an österreichischen Frontspitälern als Röntgenassistentin Dienst geleistet hatte, wurde für sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine physikalische Abteilung am Kaiser-Wilhelm-lnstitut für Chemie eingerichtet, zu dessen ständigem wissenschaftlichen Mitglied sie bestellt wurde. Sie habilitierte sich 1922 als Dozentin für Physik an der Universität Berlin und erhielt 1926 den Titel Professor.
1933 wurden ihr auf Grund ihrer jüdischen Abstammung von der NSDAP Titel und Lehrbefugnis entzogen, sie durfte ihre Arbeit im Status einer Ausländerin jedoch noch fortsetzen. 1938 konnte Lise Meitner auf eine mehr als 30-jährige, außerordentlich erfolgreiche wissenschaftliche Tätigkeit in Berlin zurückblicken. Ab dem Frühjahr 1938 galt Lise Meitner, die nie ihre österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte, als Deutsche und flüchtete nach Schweden, wo sie am Nobel-Institut in Stockholm eine wissenschaftliche Zufluchtsstätte fand. Der Bogen ihrer wissenschaftlichen Arbeit spannt sich von den Anfängen der Erforschung der Radioaktivität, wo sie zu den großen Pionieren zählt, bis zur Entdeckung der Kernspaltung gemeinsam mit Otto Hahn, der dafür den Nobelpreis erhielt. (Er erwähnte allerdings seine jahrezehntelange wissenschaftliche Mitarbeiterin mit keinem Wort.)
Ihren Lebensabend verbrachte Lise Meitner, zu deren engstem Freundeskreis die bedeutendsten Forscher ihres Faches - wie Max von Laue, Erwin Schrödinger, Wolfgang Pauli u.a. - zählten, bei der Familie ihres Neffen Otto Frisch in Cambridge, wo sie wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag, am 27. Oktober 1968, verstarb.
Lise Meitner wurde 48 Mal für den Nobelpreis nominert, ohne ihn je zu erhalten. Erst 26 Jahre nach ihrem Tod wurde ihr eine späte Ehrung zuteil: das 109. Element wurde nach Lise Meitner benannt.
Meitners wissenschaftliche Bedeutung
Die Erforschung der Beta-Spektren wurde in diesen Jahrzehnten Hauptarbeitsgebiet von Meitner. Sie bestätigte die - zunächst bestrittene - Eigenschaft der Elektronen, ein kontinuierliches Energiespektrum aufzuweisen (1925); dies war eine Vorleistung für die Neutrinohypothese W. Paulis (1930). Meitner erbrachte außerdem den Nachweis, dass Gamma-Strahlen erst nach erfolgter Kernumwandlung aus dem Folgekern emittiert werden, und konnte die Reihenfolge von Beta-Zerfall und Gamma-Emission bestimmen.
In den 30er Jahren wurde die Zusammenarbeit von Hahn und Meitner wieder enger. Der Italiener Enrico Fermi hatte 1934 eine Theorie des Zerfalls aufgestellt und gezeigt, dass durch Neutronenbombardement Kernumwandlungen erreicht werden könnten. Da Fermi glaubte, auch das Element 91 erzeugt zu haben, begannen Meitner und Hahn als Entdecker dieses Elementes entsprechende Untersuchungen. 1934 bis 1938 publizierten sie, meist gemeinsam mit dem Chemiker Strassmann, Assistent bei Hahn, fünfzehn Arbeiten über Fragen der künstlichen Umwandlung des Uraniums durch Neutronen. Ausgehend von Fermis Hypothese, dass bei Neutronenbestrahlung stets Elemente mit höherer Ordnungszahl entstehen müssten, vermutete man als Umwandlungsprodukte Transurane.
Als Hahn und Strassmann Ende 1938 aus den experimentellen Befunden auf die Uraniumkernspaltung schließen mussten, teilten sie dies zuerst der inzwischen emigrierten Lise Meitner mit. In wenigen Tagen bestätigte sie in gemeinsamer Arbeit mit Frisch aus physikalischer Sicht vermittels des Tröpfchenmodells von Niels Bohr dieses Ergebnis, und beide berechneten gleichzeitig die Energiebilanz dieses Kernspaltungsprozesses. Anfang 1939 erschien ihr Artikel in "Nature“.
Ihre Leistungen wurden zu Unrecht oft auf Assistententätigkeit bedeutender Atomphysiker reduziert, da sie entscheidend zur Entdeckung der Kernspaltung beitrugen. Eine späte Würdigung erfuhr Meitner 1997 durch die offizielle Benennung des chemischen Elements 109 als "Meitnerium".
Auszeichnungen (Auswahl)#
- Leibniz-Medaille der Berliner Akademie, 1924
- Ignaz-Lieben-Preis, 1925
- Max-Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 1949
- Otto-Hahn-Preis, 1954
- Enrico-Fermi-Preis (USA, zusammen mit Hahn und Strassmann), 1966
- Mitgliedschaften in den Akademien von Berlin, Halle, Stockholm und Wien
Werke (Auswahl)#
- Wärmeleitung in inhomogenen Körpern. Phys. Inst. Wien, IIa, Bd. 115 (Februar 1906), S. 125-137
- Über die Absorption der Alpha- und Beta-Strahlen. Phys. Z. 7 (1906), S. 588-590
- Über die Zerstreuung der Alpha-Strahlen. Phys. Z. 8 (1907), S. 489-491
- (gem. mit O. Hahn): Actinium C, ein neues kurzlebiges Produkt des Actiniums. Phys. Z. 9 (1908), S. 649, 697-702
- (gem. mit O. Hahn): Eine neue Methode zur Herstellung radioaktiver Zerfallsprodukte: Thorium D, ein kurzlebiges Produkt des Thoriums. Verh. dt. phys. Ges. 11 (1909), S. 55
- Über die Beta-Strahlen der radioaktiven Substanzen. Zusammenfassender Bericht. Naturwiss. Rundschau 25 (1910), S. 337-340
- (gem. mit O. Hahn): Die Muttersubstanz des Actiniums, ein neues radioaktives Element von langer Lebensdauer. Phys. Z. 19 (1918), S. 208-212
- (gem. m. O. Hahn): Über das Protactinium und die Frage nach der Möglichkeit seiner Herstellung als chemisches Element. Naturwiss. 7 (1919), S. 611
- Radioaktivität und Atomkonstitution. Naturwiss. 9 (1921), S. 423-427
- Der Zusammenhang zwischen Beta- und Gamma-Strahlen, in: Ergebnisse der Exakten Naturwissenschaften 3 (1924), S. 160
- Über die Energieentwicklung bei radioaktiven Zerfallsprozessen. Naturwiss. 12 (1924), S. 1146
- (gem. mit K. Freitag): Photographischer Nachweis von Alpha-Strahlen langer Reichweite nach der Wilsonschen Nebelmethode. Naturwiss. 12 (1924), S. 634-635
- Die Sichtbarmachung der Atome. Kaiser-Wilhelm-Inst. Chem. (1924), Jahresbericht
- (gem. mit M. Delbrück): Der Aufbau der Atomkerne: Natürliche und künstliche Kernumwandlungen. Berlin: Julius Springer 1935
- Kernphysikalische Vorträge am Physikalischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Berlin, Julius Springer 1936
- (mit O. R. Frisch): Disintegration of Uranium by Neutrons; a new type of Nuclear Reaction, in: Nature 143 (London 1939), S. 239
- The Nature of the Atom. Fortune Magazine (Februar 1946), S. 137-188
- Spaltung und Schalenmodell des Atomkerns. Ark. Mat. Astron. och. Fysik 4 (1950), S. 383
- (gem. mit O. Hahn): Atomenergie und Frieden. United Nations International Atomic Energy Agency. Wien 1954
- The Status of Women in the Professions. Physics Today 13 (August 1960), S. 16-21
- Wege und Irrwege der Kernenergie, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 16 (1963), 167
Literatur#
- Neue Österreichische Biographie, Bd. 20
- Neue Deutsche Biographie NDB, Bd. 16, S. 731-734
- Frisch, O. R.: Lise Meitner, in: Biographical Memoirs of Fellows of the Royal Society London, 16 (1970), 405-420 (mit ausführlicher Bibliographie)
- Kant, H.: Eine Physikern auf dem Wege zur Entdeckung der Kernspaltung, in: Physik in der Schule 16 (1978) 10, 401-407
- Krafft, F.: Lise Meitner und ihre Zeit, in: Angewandte Chemie 90 (1978) 11, 876-892
- Herneck, F.: Über die Stellung von Lise Meitner und Otto Hahn in der Wissenschaftsgeschichte, in: Z. Chem. 20 (1980) 7, 237-243
- Krafft, Fritz: Im Schatten der Sensation (Weinheim 1981)
- Kerner, Charlotte: Lise, Atomphysikerin. Die Lebensgeschichte der Lise Meitner (Weinheim/Basel 1986)
- Stolz, Werner: Otto Hahn / Lise Meitner. In: Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd. 64 (2. Aufl., Teubner, Leipzig 1989)
- Rife, Patricia: Lise Meitner, ein Leben für die Wissenschaft (Düsseldorf 1990)
- Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924, hrsg. v. S. Ernst (Stuttgart 1992)
- Sime, Ruth Lewin: Lise Meitner. A Life in Physics (Berkeley 1996)
- L. Meitner – Max von Laue. Briefwechsel 1938-1948, hrsg. von J. Lemmerich (Berlin 1998)
- Krohn, Claus Dieter, / zur Mühlen, Patrik v. / Paul, Gerhard / Winckler, Lutz (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 (Darmstadt 1998)
- Rife, Patricia: Lise Meitner and the Dawn of the Nuclear Age (Birkhäuser Verlag, Basel/Berlin 1999) (mit vollst. Bibliografie aller 169 Publikationen Meitners)
Weiterführendes#
Quellen#
- AEIOU
- öster. Zentralbibliothek für Physik
- LISE, Uni Wien
- Artikel auf Science-Blog.at: Lise Meitner – weltberühmte Kernphysikerin aus Wien