Kühne Visionen auf Wasser#
Um den Folgen des Klimawandels vorzubeugen, werden von Architekten "schwimmende Städte" entworfen: von kleinen Communities bis zu maritimen Metropolen.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 17. August 2019
Von
Georg Biron
Schon vor 8000 Jahren sind Menschen aufs Wasser ausgewichen. Archäologen haben beim oberösterreichischen Mondsee Überreste von Pfahlbauten aus der Jungsteinzeit ausgegraben. Diese Bauweise bot schon damals Schutz vor Hochwasser. Noch heute finden sich entlang der Donau einfache Hütten, die auf hölzernen Pfosten stehen und als Fe-rienwohnungen vermietet oder von Fischern als Wohn- und Vorratsräume genützt werden.
Große Teile der Stadt Venedig ruhen ebenso auf Holzpfählen wie das historische Amsterdam, das nicht nur von den Holländern gerne "Venedig des Nordens" genannt wird. Schon lange ist dort Wohnraum knapp. Deshalb leben viele Menschen auf Hausbooten. Eine Besonderheit von Amsterdam ist die Lage: Die Stadt liegt teilweise unterhalb des Meeresspiegels und wird durch gigantische Deichanlagen vor den ozeanischen Wassermassen geschützt.
Um Leben sowie Hab und Gut vor Überschwemmungen zu bewahren, errichtete man auf den Philippinen, am Mekong in Kambodscha und in Thailand hölzerne Pfahlbausiedlungen in Lagunen und Flussmündungen. Millionen Menschen in Südostasien bewohnen Boote, und in China sind richtig große Städte aus Hausbooten errichtet worden. Siedlungen auf dem Wasser gibt es auch schon lange auf dem Tonle Sap See in Kambodscha, in der Halong-Bucht in Vietnam oder in Südamerika - auf dem Titicacasee in Peru.
Meeresspiegel steigt#
Schwimmende Städte auf den Ozeanen waren bisher in erster Linie ein Thema für Science-Fiction-Autoren und tollkühne Gedankenspiele visionärer Architekten. Doch solche Projekte rücken durch den Klimawandel in greifbare Nähe. Rund 40 Prozent der Weltbevölkerung leben heute weniger als 100 Kilometer von Meeresküsten entfernt, und zehn Prozent sind in Regionen zu Hause, die höchstens vier Meter über dem Meeresspiegel liegen.
Das wird immer mehr zum Problem, denn wie neue Daten des "Intergovernmental Panel on Climate Change" dokumentieren, wachsen die Meere seit Jahrzehnten. Klimaforscher erwarten, dass die Temperatur auf der Erde in den nächsten 30 Jahren um 1,5 Grad ansteigen wird. Das kann ein Ansteigen des Meeresspiegels um 26 bis 77 Zentimeter nach sich ziehen. Der Ozeanologe und Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung ist pessimistisch. In einem Interview mit dem Magazin "National Geographic" sagt er: "Frühere Prognosen zum Meeresspiegelanstieg sind inzwischen von den Messdaten überholt worden."
Dabei spielen mehrere Faktoren zusammen. Einerseits hat erwärmtes Wasser ein größeres physikalisches Volumen als kaltes - und benötigt mehr Platz. Nur wenn Wasser zu Eis wird, braucht es ebenfalls mehr Raum. Jedenfalls werden in den Binnenländern durch das Abschmelzen der Gebirgsgletscher große Wassermassen in die Meere gespült.
Doch vor allem die riesigen Eisvorkommen in Grönland und in der Antarktis sind in Gefahr. Seit 1992 sind dort im Schnitt pro Jahr 200 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. "Zuletzt haben wir ein beschleunigtes Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis beobachtet", erklärt Radley Horton vom Earth Institute der Columbia-Universität in einem Interview mit dem New Yorker Radiosender WNYC. "Falls diese Beschleunigung anhält, könnte der Meeresspiegel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 1,80 Meter steigen."
So könnte ein Verbund aus schwimmenden (Plattform-)Gemeinden nach Entwürfen der dänischen Architektengruppe BIG aussehen. - © Oceanix City/BIG - Bjarke Ingels Group So könnte ein Verbund aus schwimmenden (Plattform-)Gemeinden nach Entwürfen der dänischen Architektengruppe BIG aussehen. - © Oceanix City/BIG - Bjarke Ingels Group
Weil es auf der ganzen Welt immer mehr Leute in Großstädte zieht, wird in den nächsten Jahrzehnten rund die Hälfte der Menschheit den Anstieg des Meeresspiegels ganz hautnah erleben. Am stärksten wird es China treffen, wo 64 Millionen Menschen in bedrohten Regionen leben. In zwölf anderen Ländern - darunter Indien, Bangladesch und Vietnam - werden jeweils mehr als zehn Millionen Menschen vor dem Meer zurückweichen müssen.
Auch Miami gefährdet#
Die langfristigen Aussichten für Weltstädte wie Mumbai, Kalkutta oder Shanghai sind düster. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass bis zum Jahr 2070 ungefähr 150 Millionen Menschen in den größten Hafenstädten der Welt durch Überschwemmungen in Lebensgefahr sein werden. Dazu kämen zerstörte Sachwerte von 20 Billionen Euro - eine Summe, die neun Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts entspricht.
In den USA ist Miami am stärksten gefährdet. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Südosten Floridas am Ende unseres Jahrhunderts noch viele Bewohner haben wird", sagt Hal Wanless, der Vorsitzende des Geologie-Instituts an der Universität von Miami, in einem Gespräch mit der britischen Tageszeitung "The Guardian".
Klimaforscher führen eine weitere dramatische Entwicklung ins Treffen: Klimaflüchtlinge. "Von den Bahamas über Bangladesch bis zu einem großen Teil von Florida müssen alle umziehen, und das möglicherweise zur gleichen Zeit", sagt Wanless. "Wir werden Unruhen erleben, Krieg und Not. Ich frage mich, wie - oder ob - unsere Zivilisation das verkraften kann. Wie dünn ist das Gewebe, das alles zusammenhält? Wie bringt man den Leuten bei, dass Miami oder London nicht ewig existieren werden?"
Das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-Habitat) ist das Wohn- und Siedlungsprogramm der UNO. Im Oktober 2016 fand in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito die Konferenz "Habitat III" statt.
35.000 Vertreter aus 193 UN-Mitgliedstaaten, allesamt Profis auf den Gebieten Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, beschäftigten sich mit den Herausforderungen der Urbanisierung. Seit der letzten Habitat-Konferenz im Jahr 1996 ist die Zahl der Menschen, die in Städten leben, um 1,4 Milliarden gestiegen, vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern verzeichnet man große Zuwächse. Mit der in Quito beschlossenen "New Urban Agenda" bekennen sich die UN-Staaten dazu, Städteplanung stärker in ihre Politik einzubetten und eine nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung zu forcieren.
Oceanix City#
Die dänische Architekten-Vereinigung BIG-Bjarke Ingels Group unterstützt die New Urban Agenda von UN-Habitat und entwickelt eine Vision für die weltweit erste belastbare und nachhaltige schwimmende Gemeinde mit 10.000 Einwohnern auf 75 Hektar, eine nachhaltige Stadt auf dem Wasser - Oceanix City. Das Design ist in den Nachhaltigkeitszielen verankert und kanalisiert die Energie-, Wasser-, Lebensmittel- und Abfallflüsse, um einen Entwurf für eine maritime Metropole zu erstellen. Alle Bauwerke sind unter sieben Stockwerken gehalten, um einen niedrigen Schwerpunkt zu sichern und dem Wind wenig Angriffsfläche zu bieten.
Jedes Gebäude bietet Komfort und niedrige Kühlkosten bei maximaler Dachfläche für Sonnenenergie. Eine kommunale Landwirtschaft ist das Herzstück jeder Plattform und ermöglicht es den Bewohnern, Kultur und Null-Abfall-Systeme zu teilen.
Alle Gemeinden, unabhängig von ihrer Größe, werden Baumaterialien aus lokaler Produktion verwenden, vor allem schnell wachsenden Bambus, der die sechsfache Zugfestigkeit von Stahl hat, einen negativen CO2-Fußabdruck aufweist und in der Nachbarschaft selbst angebaut werden kann. Schwimmende Städte können an Land vorgefertigt und an ihren endgültigen Standort geschleppt werden, wodurch die Baukosten gesenkt werden. Das bedeutet, dass günstiges Wohnen zügig in Megacities an den Küsten bereitgestellt werden kann, wenn das dringend erforderlich ist.
In diese Kerbe schlägt auch das Seasteading-Institut, das die Errichtung autonomer, mobiler Gemeinschaften auf schwimmenden Plattformen in internationalen Gewässern plant.
"Anders als in der Welt der Politik können in der Welt der Technik die Entscheidungen von Einzelnen immer noch von vorrangiger Bedeutung sein", erklärt Peter Thiel, der den Online-Bezahldienst PayPal gegründet hat und jetzt das Seasteading-Institut finanziell unterstützt. "Das Schicksal unserer Welt kann von der Anstrengung einer einzelnen Person abhängen, die das Räderwerk der Freiheit baut, die unsere Welt für den Kapitalismus sicher macht."
Seasteading-Architekten und -Ingenieure sind in Palo Alto in Kalifornien von der Idee besessen, dass der Mensch schon bald das Wasser in großem Stil besiedelt. "Auf riesigen Pontons sollen mehrstöckige Gebäude stehen, in denen Hunderte Menschen leben", berichtet der Wissenschaftsjournalist Holger Dambeck im Nachrichtenmagazin "Spiegel" und schildert ein denkbar einfaches Konzept: "Die Pontons lassen sich zu einer Kleinstadt zusammenkoppeln und könnten sogar Hunderte Kilometer vom Festland entfernt in internationalen Gewässern schwimmen. Mini-Atomkraftwerke versorgen die Siedlung mit Energie. Kühne Visionäre träumen gar von der Gründung neuer Nationen mit eigener Gesetzgebung."
Grundsätzlich, so Dambeck, seien zwei Szenarien denkbar: Eine kleine schwimmende Community mit bis zu 1000 Bewohnern, die alle für ein einziges Unternehmen arbeiten. So etwas ließe sich am leichtesten küstennah umsetzen, etwa in den USA, im Südwesten Japans oder in der Ostsee.
Möglich wäre aber auch eine richtige Stadt mit 50.000 und mehr Menschen, die Dutzende Quadratkilometer groß ist. Eine solche Stadt könnte auch weit entfernt vom Festland schwimmen, zum Beispiel 200 Kilometer vor der brasilianischen Küste, zwischen Rio de Janeiro und der Grenze zu Uruguay.
Projekt im Pazifik#
Das Unternehmen Blue Frontiers wurde 2017 (ein Jahr nach der UN-Konferenz in Ecuador) von superreichen Idealisten gegründet und hat eine Reihe von ökologischen, ökonomischen und rechtlichen Studien über die Entwicklung und Stationierung nachhaltiger Seasteads (also Meeressiedlungen) in französisch-polynesischen Gewässern durchgeführt, die einem neuen Gesetz unterliegen, das ihnen eine weitgehende Autonomie erlaubt.
"Französisch-Polynesien ist eines der vielversprechenden Länder, mit denen wir Beziehungen pflegen, wenn es um die Stationierung von Seasteads geht. Es ist ein tropisches Land mit 118 Inseln im Pazifischen Ozean, wo wir eine Vielzahl von geeigneten Standorten identifiziert haben. Es liegt außerhalb des Hurrikan-Gürtels, verfügt über moderne kabelgebundene Internetverbindungen und viele Fluglinienverbindungen zu Großstädten wie Los Angeles und San Francisco", sagt Joe Qirk, Präsident des Seasteading Institute und Co-Gründer von Blue Frontiers.
Erster Prototyp 2020#
"Eines unserer Hauptziele für das Jahr 2018 war es, einen geeigneten Standort für das Projekt zu finden. Zu unseren Möglichkeiten gehören unbewohnte Orte, aber auch andere, an denen wir gegenseitig vorteilhafte Beziehungen mit der lokalen Gemeinschaft und dem wachsenden Netzwerk von Unterstützern aufbauen" (Quirk). Nächstes Jahr soll der erste Prototyp solch einer schwimmenden Plattform eröffnet werden. Im Mittelpunkt wird ein schickes Luxus-Restaurant als Info-Hotspot Interessenten und Investoren anlocken.
Joe Quirk ist ein radikaler Querdenker und hat ein Buch mit seinem Credo veröffentlicht:"Seasteading: Wie schwimmende Nationen die Umwelt wiederherstellen, die Armen bereichern, die Kranken heilen und die Menschheit von den Politikern befreien".
Quirk glaubt fix daran, dass schwimmende Städte Heilbringer sind: Sie würden die Armen bereichern, weil kleine Inselstaaten oft wohlhabender und selbstbestimmter sind, sobald sie unabhängig werden. Außerdem würden sie auch "die Kranken heilen", weil die medizinische Forschung in schwimmenden Städten nicht länger von der Bürokratie eingeschränkt werde, und man könne auch "die Hungernden speisen", wenn man die Algen erntet, die überall wachsen und das CO2 umwandeln, wenn das Klima wärmer wird. Gezüchtete Algen könnten "die Atmosphäre reinigen" und eine neue, mit Sonnenkraft betriebene Energiequelle bilden. Dank der mit Wasserkraft betriebenen Städte, deren Technik von Pflanzen inspiriert ist, könnte man "Menschen im Gleichgewicht mit der Natur leben lassen". Durch neue Meereswärmekraftwerke, die sich der unterschiedlichen Wassertemperaturen am Grund und an der Oberfläche bedienen, ließe sich "die Welt mit Strom versorgen".
Die Philosophen Richard Barbrook und Andy Cameron sind Kritiker der "Seevangelisten", wie sie Quirk & Co. nennen, und merken im US-Fachmagazin "Science as Culture" an, dass "dieses Sendungsbewusstsein auf die Entstehungsbedingungen des Silicon Valley in den 1990ern zurückzuführen ist, die diese ‚Californian Ideology‘ als bizarren Mischmasch aus anarchistischer Hippie-Weltanschauung und ökonomischem Liberalismus, angereichert mit einem Schuss technologischem Determinismus", hervorgebracht haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin hält von Anarchismus und Hippie-Lifestyle wenig. Aber er ist offenbar ebenfalls davon überzeugt, dass dem Leben auf den Meeren die Zukunft gehört. Und so segnete er ein ganz besonderes Projekt der staatlichen Atom-Agentur Rosatom ab: die Inbetriebnahme eines schwimmenden Atomkraftwerks. An Bord des 140 Meter langen und 30 Meter breiten, rot-weiß-blau lackierten Schleppkahns "Akademik Lomonossow" sind zwei 35-Megawatt-Druckwasserreaktoren installiert, die noch in diesem Jahr die Stadt Pewek sowie Gas- und Ölbohrinseln mit Energie versorgen werden.
Schwimmende AKWs#
Putin sprach in einer Presse-Erklärung von einem "bedeutenden Meilenstein für die Nuklearindustrie der Welt", und Witali Trutnew, der verantwortliche Manager von Rosatom, erklärte: "Schwimmende Kernkraftwerke werden die Strom- und Wärmeversorgung der entlegensten Regionen ermöglichen und dadurch ihr Wachstum und nachhaltige Entwicklung fördern."
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisiert das Projekt und spricht von einem "Tschernobyl auf dem Wasser". Dennoch: Die Entwicklung schwimmender AKWs liegt im Trend: Zwei staatlich unterstützte Unternehmen in China verfolgen Pläne für mindestens 20 schwimmende Kernkraftwerke, und US-amerikanische sowie kanadische Unternehmen haben ebenfalls Pläne in diese Richtung.
Interessent Sudan#
"Nach dem Willen ihrer Erbauer soll die ‚Akademik Lomonossow‘ die erste einer Reihe von mobilen, transportablen Kleinleistungsreaktoren sein, die entlegene Siedlungen, Industrieanlagen oder auch Bohrplattformen mit Strom und Wärme und mit entsalztem Meerwasser versorgen.
"Mit Blick auf das Exportpotential wird derzeit eine zweite Generation mit 50-Megawatt-Reaktoren entwickelt, die billiger sind, denn der Preis der ‚Akademik Lomonossow‘ war mit rund 430 Millionen Euro sehr hoch", erzählt die deutsche Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. "Die Russen werben damit, dass der Bau eines solchen schwimmenden Kernkraftwerks nur vier Jahre dauert - im Gegensatz zu einem oder gar zwei Jahrzehnten bei einem konventionellen AKW. Und inzwischen gibt es auch einen ersten Interessenten. So soll der Sudan einen Vorvertrag über den Erwerb des ersten schwimmenden Atomkraftwerks haben."
Der Sudan, so groß wie West- und Mitteleuropa zusammen, verfügt über riesige Rohstoffvorkommen, gehört aber dennoch zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Russen werden nicht nur ein schwimmendes Kernkraftwerk schicken, sondern auch Waffen und Militärberater.