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Hans Gross: Stofflieferant für Kafka und Krimis#

Über den Rechtsgelehrten, der die Kriminologie als Wissenschaft etablierte und das Grazer Kriminalmuseum begründete.#


Von der Wiener Zeitung (18. April 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Janko Ferk


Das berühmteste Ausstellungsstück des Kriminalmuseums: der Tatortkoffer des Untersuchungsrichters
Das berühmteste Ausstellungsstück des Kriminalmuseums: der Tatortkoffer des Untersuchungsrichters.
Foto: © Kriminalmuseum, Graz

Gegründet wurde das Grazer Kriminalmuseum von Hans Gross, der für einen der größten deutschsprachigen Schriftsteller zur Inspirationsquelle wurde, nämlich für den Studenten Franz Kafka, der bei ihm Vorlesungen über Strafrecht, Strafprozess und Rechtsphilosophie besuchte.

Hans Gustav Adolf Gross, so sein bürgerlicher Name in voller Länge, auch Groß oder Grosz, wurde am 26. Dezember 1847 in Graz geboren und starb am 9. Dezember 1915 in seiner Heimatstadt. An der Karl-Franzens-Universität Graz studierte er Rechtswissenschaften und wurde 1897 Professor für Strafrecht an der Universität Czernowitz. Im Jahr 1902 wurde er nach Prag und 1905 nach Graz berufen.

Schon 1893 forderte er die Errichtung einer Lehrkanzel für Kriminalistik als strafrechtliche Hilfswissenschaft. Das Justizministerium beauftragte ihn im Herbst desselben Jahres, in Wien einen "Kursus über die Aufgaben des Untersuchungsrichters" durchzuführen. Gross wusste, was er wollte, war er doch jahrelang selbst Untersuchungsrichter und überdies Begründer der modernen Kriminologie als Wissenschaft. Er setzte deren Anerkennung als selbstständig zu lehrende Disziplin durch.

Sein "Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen", das bereits im Jahr 1893 in Graz erschien, machte Hans Gross berühmt, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und diente ganzen Schriftstellergenerationen als Anregung und Stofflieferant für Kriminalromane. Neben seinem Hauptwerk ist noch ein weiteres bekannt geworden, seine "Criminalpsychologie", mit der er versuchte, ein umfassendes System all jener psychologischen Lehren zu geben, die für den Kriminalisten bei seiner Arbeit unentbehrlich sind. Der induktiven Methode der Spurensicherung und der Erforschung der psychischen Ursachen eines Verbrechens kamen dabei besondere Bedeutung zu. Aus akademischer Lauterkeit muss freilich gesagt werden, dass beide Handbücher heute nur noch historische Bedeutung haben, wissenschaftlich sind sie veraltet und überholt.

Hans Groß
Hans Groß.
Foto: © Bildarchiv der ÖNB, Wien, für AEIOU

Das Kriminalmuseum, das am 1. August 1895 eröffnet wurde (Hans Gross, damals noch Richter, war sein erster Kustos), war kein herkömmliches Ausstellungshaus, es wurde als Lehrmittelsammlung errichtet, die zur Ausbildung von Studenten, Kriminalbeamten und Untersuchungsrichtern dienen sollte. Gross kritisierte die damalige juristische Ausbildung: "Was würde man sagen, wenn man einen Arzt heranbilden und auf die Menschheit loslassen würde, ohne ihm einen Kranken, das Innere eines Menschen gezeigt zu haben [...] - kurz wenn man ihn so unterrichtet hätte wie man Juristen erzieht, mit Büchern und Vorlesungen."

Die Sammlung der verschiedensten corpora delicti spiegelte Gross’ Leidenschaft für sachliche Beweismittel wider. Er war der Überzeugung, dass Zeugenaussagen weniger zuverlässig seien als Sachbeweise, die zu einer höheren Wahrscheinlichkeit der Fallaufklärung führten. Der Zeuge konnte irren, das mikroskopische Präparat hingegen war unbestechlich.

Eines der Glanzstücke des Kriminalmuseums ist der - von Gross zusammengestellte - Tatortkoffer des Untersuchungsrichters. Der Inhalt ist in genialer Weise durchdacht. Wird man als Betrachter keinen Zweifel daran haben, dass Kompass, Lupe, Zange und Zirkel oder Bleistift, Briefpapier und Amtssiegel in einen solchen Koffer gehören, wird man indes spätestens bei der kleinen Blechdose mit Bonbons für Kinder nach dem näheren Sinn fragen - und vom Kustos erfahren, dass Aussagen von Kindern für die Aufklärung von Straftaten immer nützlich und wahrheitsgemäß sind. Kerzen, Kreuz und Zündholzschachtel werden einem wahrscheinlich wieder evidenter erscheinen. Das Vereidigen von Zeugen hat nicht selten zu Ergebnissen geführt, die den zunächst unbeeideten Aussagen diametral entgegenstanden.

Erstes Institut#

Der juristische Lebenstraum von Hans Gross ging erst im Jahr 1912 in Erfüllung, als es zur Eröffnung des "K. k. Kriminalistischen Instituts an der Universität Graz" kam. Seine Bemühungen waren somit endlich erfolgreich. Lange Zeit war das Ministerium für Kultus und Unterricht der Ansicht, dass sich Kriminalistik nicht als Lehrgegenstand eignen würde. Es wurde dem Fach die Selbstständigkeit als wissenschaftliche Disziplin abgesprochen. Das Institut war weltweit das erste dieser Art.

Das sechzehn Jahre davor ins Leben gerufene Kriminalmuseum wurde nunmehr an die Universität übertragen und dem neuen Institut angegliedert. Hans Gross hatte somit nach hartem Kampf die Kriminologie als Wissenschaft und ein Kriminologisches Institut etabliert. Die "Grazer Kriminologische Schule" ist heute auf der ganzen Welt bekannt.

Das Museum übersiedelte immer wieder, einige Zeit musste es Gross wegen räumlicher Probleme und Unzulänglichkeiten sogar in seine eigene Wohnung verlegen. Der bisher letzte große Relaunch hat im Jahr 2000 stattgefunden, als Professor Gernot Kocher sich des Kriminalmuseums annahm und Angehörige des Instituts für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung mit der Vorbereitung zur Neueröffnung betraute.

Hans Gross auf einer Büste von Gustinus Ambrosi, 1915, die in der Aula der Universität Graz steht.
Hans Gross auf einer Büste von Gustinus Ambrosi, 1915, die in der Aula der Universität Graz steht.
Foto: © Kriminalmuseum, Graz

Heute wird das Kriminalmuseum in der Heinrichstraße 18 jährlich von rund sechstausend Besuchern aufgesucht (so es nicht aus pandemischen Gründen geschlossen ist, wie derzeit noch). Besonders eignet es sich für Schulklassen, speziell für "Oberstufen".

Im "Orkus" verewigt#

Das Museum leitet der Kustos Christian Bachhiesl, ein Mann mit Habilitation, nicht weniger als fünf akademischen Titeln und einer abgelegten Aufsichtsjägerprüfung. Auch er ist, wie sein berühmter Vorgänger, in Zusammenhang mit einem bekannten Schriftsteller zu bringen, nämlich dem geborenen Grazer Gerhard Roth.

Dieser hat zweiunddreißig Jahre lang an seinen beiden großen Romanzyklen, "Die Archive des Schweigens" und "Orkus", gearbeitet. Der Band "Orkus. Reise zu den Toten" (S. Fischer, 2011) ist der Schlussstein der monumentalen Arbeit und umfasst knapp siebenhundert Seiten. Im Buch sind die Namen Hans Gross und Franz Kafka selbstverständlich dokumentiert. In diesem Umfeld, eigentlich muss man Kontext sagen, steht auch das Kapitel "Das Kriminalmuseum", in dem Christian Bachhiesl verewigt ist.

"Ein Freund, der Jusstudent Sonnenberg, vermittelte mich eines Tages an den Assistenten des Kriminologischen Instituts der Universität Graz, der mir die von Gross begonnene Lehrmittelsammlung, welche inzwischen museale Ausmaße angenommen hatte, zeigen sollte. Dr. Bachhiesl war ein mittelgroßer Mann, mit einer Trachtenjoppe bekleidet und einer Brille auf der Nase."

So ist der gebürtige Kärntner Bachhiesl in die deutschsprachige Literatur eingegangen. Über den fünfzigjährigen Christian Bachhiesl kann man außerhalb der Literatur erfahren, dass er aus einer Ärztefamilie stammt, aber nicht in die Fußstapfen seines Vaters Wilhelm Bachhiesl trat, der praktischer Arzt war. Wie besonders begabte und interessierte Maturanten oftmals, wusste auch dieser junge Mann nicht, was er studieren sollte - und versuchte es mit Jus. "In meinem Gerichtsjahr habe ich bemerkt, dass ich damit auf Dauer nicht glücklich werde, und habe das Studium der Alten Geschichte angehängt."

Kustos Christian Bachhiesl
Kustos Christian Bachhiesl
Foto: © Karl-Franzens Universität Graz

Mit dem 500-Seiten-Werk "Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft" wurde Bachhiesl im Jahr 2011 an der Universität Graz habilitiert. Er ist überhaupt ein fleißiger Autor. Bekannt ist er auch für mitreißende Vorträge, etwa über den letzten in der Steiermark zum Tod verurteilten Raubmörder. Vor mehr als siebzig Jahren wurde der Mann, dem sechs Raubmorde, zwei Mordversuche sowie versuchte und vollbrachte Raube nachgewiesen werden konnten, gehenkt. Es war die letzte Hinrichtung im Hof des Grazer Straflandesgerichts.

Christian Bachhiesl ist neben seiner Museumstätigkeit Lehrveranstaltungsleiter an zwei Instituten der Universität Graz: am Institut für Geschichte sowie am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie. Wie man hört, ist er bei den Studentinnen und Studenten als Vortragender sehr beliebt. Belegt ist, dass auch Hans Gross, sein erster Vorgänger, als Prüfer außerordentlich wohlwollend war, "weil ihm der intelligente Mensch genügte und weil er Versagen nachsichtig bewertete", wie der Kafka-Experte Hartmut Binder schreibt.

Bei der umfassenden Museumstätigkeit unterstützt Bachhiesl seine Ehefrau Sonja Maria, ebenso Doppelakademikerin und Begründerin der "Spielosophie", mit der Kindern und Jugendlichen Philosophie spielerisch vermittelt wird. Das neueste Kompendium, das das Wissenschafterehepaar unter Mitarbeit von Stefan Köchel herausgegeben hat, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schuld" ("Interdisziplinäre Perspektiven auf ein Konstitutivum des Menschseins", Velbrück 2020).

Dem ausgezeichnet geführten Museum wünscht man - neben pandemiefreien Zeiten - nur eines: dass die Universität Graz der Gross-Sammlung mehr und schöneren Raum zur Verfügung stellen sollte. Viel mehr.

Informationen:#

Janko Ferk ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor für Literaturwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Univerza v Celovcu und Schriftsteller. Zuletzt veröffentlichte er den Essayband "Kafka, neu ausgelegt" (Leykam Verlag, Graz).

Wiener Zeitung, 18. April 2021


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