Unbekannte Pratergschicht’n: Gruseln im Panopticum #
Der Prater feiert 2016 seinen 250. Geburtstag. (Teil III)#
Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 27. Jänner 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Clemens Marschall
Wien. „Früher hat man über auffällige, exzentrische Menschen gesagt: 'Der gehört ins Panopticum!' – das war eine geflügelte Redensart“, sagt Robert Kaldy-Karo, während er sich durch eine Archivkiste wühlt, auf der vorne groß „Präuschers Panopticum“ steht. Wir befinden uns im Wiener Circus- und Clownmuseum, einem Hort von Praterobskuritäten, und begeben uns mit Kaldy-Karo, dem Direktor des Hauses, auf Spurensuche.
Hermann Präuscher wurde 1839 in Gotha als Sohn eines Schaustellers geboren. Wie damals typisch verbreitete auch er eine Artistenlegende. Dieser zufolge wollte seine Familie, dass er Medizin studiert, doch der junge Präuscher flüchtete aus dem Elternhaus und erarbeitete sich in verschiedenen Zirkussen seinen Ruf als Raubtierdompteur. 1871 – so will es die Legende – erhielt der damalige Hasardeur von einer gewonnen Wette in Paris einen höheren Geldbetrag. Doch was auf jeden Fall stimmt, ist, dass er im Prater sein Panopticum errichtete.
Dazu beauftragte er die Theaterarchitekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, die ein renommiertes Architekturbüro führten und an beinahe 50 Theaterbauten in Europa beteiligt waren. In der Wiener Landschaft gehen das Volkstheater, das Akademietheater und das Konzerthaus auf ihr Konto. Seine Eltern erlebten die Eröffnung des Hauses nicht mehr mit, doch sie waren in anderer Form zugegen: Neben einer Unzahl von Wachsfiguren stellte Präuscher die von ihnen ererbte Sammlung von Tierpräparaten aus.
Auf der Rückseite eines Museumsführers aus den späten 1880- ern, der an die Besucher verkauft wurde, war zu lesen: „Besuchen Sie nebenan Präuschers Museum Anatomie. Nur für Erwachsene“. Das Ausstellungshaus war also bewusst zweigeteilt: in das Panopticum und das getrennt begehbare Anatomiemuseum.
Das Panopticum bestand aus dem Wachsfigurenkabinett und wechselweise einem Spiegel-Irrgarten, einem Lachkabinett, einer Exotenschau, einem Flohzirkus sowie Tierdressuren mit Löwen und Affen. Zu sehen waren prominente Figuren aus Wachs, darunter Prinz Eugen von Savoyen, Maria Theresia, Joseph II., Martin Luther, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Richard Wagner und Johann Strauss. Die Wachsdarstellungen beinhalteten auch Gladiatorenkämpfe, große Mumiengruppen der Inkas und „urwienerische“ Eigenarten: Im Museumsführer ist etwa als Punkt 89 das Wachsexponat „Beim Heurigen“ genannt.
Panoptica waren damals fixer Bestandteil von Jahrmärkten und Volksfesten. Es gab nicht nur jene mit fixen Standorten, sondern – mehr noch – wandernde Wachsfigurenkabinette. Wenn auch der anrüchige Touch gewichen sein mag, sind sie auch noch heute beliebte Attraktionen: Man denke nur an die Niederlassungen von Madame Tussauds in sämtlichen Metropolen, von Wien über Berlin nach London und New York. Doch auch Madame Tussaud hat einen pikanten Hintergrund: Sie fing ihre Karriere damit an, zur Zeit der Französischen Revolution nach den Hinrichtungen die geköpften Häupter in Wachs abzubilden.
In dieser Tradition bewegen sich die „große, internationale Verbrechergalerie“ und die „Schreckenskammer“ in Präuschers Panopticum: Folterwerkzeuge, lebendig begrabene Menschen, Massenhängungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, ein französisches Inquisitionsgericht, eine Hinrichtung am Kongo sowie Serienmörder wie Hugo Schenk, Peter Kürten („Der Vampir von Düsseldorf“) und Fritz Haarmann („Der Totmacher“) wurden dort im Halbdunkeln dargestellt. All das zählte damals noch zum „Familienprogramm“.
Nur für Erwachsene #
In Präuschers anatomisches Museum hingegen wurden keine Kinder hineingelassen. Hier waren fast 900 anatomische Präparate zu sehen: Föten in verschiedenen Entwicklungsstufen, menschliche Skelette, Missbildungen sowie sämtliche Krankheitsbilder und Körperteile; vom Uterus eines Schweins zu österreichischen Säuferlebern und Schrumpfköpfen aus dem Amazonas. Eine Mischung aus Staunen, Schrecken und Neugier waren die Zutaten solcher Ausstellungen, oft versehen mit dem „Exoten-Bonus“ als Trumpf in der Hand.
So stellte Präuscher vor seinem Panopticum als Blickfang und Lockmittel die Gestalt eines Gorillas auf, der ein weißes Mädchen an sich reißt. Die Originaldarstellung stammt vom Bildhauer Emmanuel Frémiet. In Präuschers Fall wurde sie sogar mechanisch betrieben, damit der Gorilla mit seinem Gebiss fletschen konnte. Natürlich wurde dazu – sowohl von Präuscher als auch seinen Ausrufern – eine reißerische Geschichte verbreitet, nämlich, dass diese Figurengruppe auf einer wahren Begebenheit beruhe und die Tochter eines Plantagenbesitzers in Südafrika von einem Gorilla geraubt worden wäre. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Jägerlatein und Marketinggag, liegt doch das Verbreitungsgebiet von Gorillas in den Wäldern West- und Zentralafrikas. Doch auf den Effekt kam es an, und die Figur sollte als Pforte in ein anderes Reich dienen. Kaldy- Karo fügt hinzu: „Das war damals generell ein sehr beliebtes Sujet und führte etwa zu ‚King Kong‘. Aber auch heute noch ist vor der Geisterbahn im Prater ein Gorilla zu sehen.“
Der Drang, in Abgründe zu blicken – ob nun auf einem „Schmäh“ oder realen Tatsachen beruhend – scheint ein immanenter Bestandteil des Menschen zu sein, der bis heute ungebrochen ist. Gestillt wird diese Sehnsucht durch Horrorfilme, verschärften Versionen von Geisterbahnen und sogenannten „Horror Houses“. In Letzteren werden teilweise tatsächliche Foltermethoden angewandt, die man in einem anderen Kontext niemals zulassen würde.
Als brutalstes seiner Art gilt das McKamey-Horrorhaus in San Diego: Dort werden die Besucher durch einen stundenlangen Echtzeithorrorfilm gejagt, in Blut getränkt, unter Wasser gehalten oder in einen Käfig mit lebendigen Schlangen gesperrt. Das Heikle daran: Wie in anderen „Haunted Houses“ sonst üblich, gibt es in diesem kein Codewort, mit dem man den Schrecken beenden kann. Hier entscheiden die Folterknechte, wann Schluss ist.
Auch damals schon hatte Hermann Präuscher kreativ zu sein, um das abgehärtete Publikum auf Trab zu halten, wie ein Artikel des „Neuen Wiener Tagesblatts“ vom 29. April 1872 zeigt, in dem es über ihn und sein Panopticum heißt: „Die größte Sehenswürdigkeit desselben wird jedoch nicht für Geld gezeigt, und diese ist der Herr selbst, der bekannte ehemalige Löwenbändiger Hermann. Er dürfte den Wienern bekannt sein, aber was nicht jeder weiß, ist eine eigentümliche, ihn jetzt beherrschende Marotte. Hermann kauft mit einer unbegreiflichen Leidenschaft Menschenhäute noch lebender Personen. Der gewöhnliche Preis ist zehn Gulden, doch soll er für eine besonders gute Haut sogar hundert Gulden gezahlt haben. Zehn Perzent des Kaufpreises werden sofort erlegt und noch soforter vertrunken, und das scheint die Hauptsache zu sein.“
Seinen Körper nicht der Wissenschaft, sondern dem Präuscher anvertrauen? Kaldy-Karo schüttelt den Kopf: „Das kann man eigentlich als eine ‚Urban Legend‘ bezeichnen bzw. einen Werbegag. Wie diese Legende entstanden ist, könnte mehrere Ursachen haben: Womöglich sind gewisse Gerüchte aufgetaucht, als er die Mumie von Miss Pastrana ausgestellt hat, und er hat quasi den Spieß umgedreht und die Nachrednerei für sich genutzt. Er könnte das Gerücht aber auch selbst in die Welt gesetzt haben. Fakt ist, dass niemals festgestellt wurde, dass eine seiner Figuren mit Menschenhaut überzogen war.“
Politisierte Unterhaltung #
Lehrreiches stand bei Präuscher neben Kuriosem, Tatsachen neben Flunkereien, Historisches neben Unterhaltsamen, die Schuhe des isländischen Riesen Johann Petursson neben der Totenmaske Napoleons. Die Kuriositätenshow wurde im Ausstellungsführer teils pädagogisch aufbereitet und die jeweiligen Artefakte kontextualisiert. „Des Wieners Stolz ist sein Prater! Präuscher’s Stolz ist seine Praterhütte!“, steht noch im „Illustrierten Wiener Extrablatt“ vom 5. Mai 1889 zu lesen, doch gut 20 Jahre später schienen sich die Dinge geändert zu haben. Das hatte auch mit Hermann Präuschers Tod 1896 zu tun und damit, dass seine Erben das Panopticum weiterführten. In Zeitungsanzeigen ließen sie zwar noch drucken: „Der Name Präuscher bietet die Garantie, dass nur wirklich Vollkommenes und Sensationelles ausgestellt wird.“ Felix Salten schreibt in seinem 1911 erschienen Buch „Wurstelprater“ aber bereits kritisch über das Panopticum: „Das Licht des verdämmernden Nachmittags fällt in den weiten Raum auf all die Figuren, die mit starren, toten Gebärden dastehen in verschlissener schäbig gewordener Pracht. Es ist, als wären schon hundert Jahre vorbei, und alles, was die Welt bewegte, stände hier wie morsches Gerümpel in einer Scheuer beisammen – Bismarck und Moltke und Richard Wagner und Munkacsy und Hugo Schenk“ – allesamt berühmte historische Persönlichkeiten, denen man „begegnen“ konnte, doch manchmal sah man vielleicht mehr, als man wollte: 1919 brachen Unbekannte ins Panopticum ein und stahlen sämtliche Kleidungsstücke von Johann Strauss sowie von den Politikern Karl Lueger und Franz Schuhmeier.
Politisch sollte es auch in „Präuschers Menschenmuseum“ werden, wie es ab den 1920ern hieß: Im Museumsführer von 1940/41 ist plötzlich von „Abstammung und Rassenkunde des Menschen“ sowie „Rassen- und Völkerkunde“ zu lesen: Punkte, die zu Zeiten Hermann Präuschers keinen Platz darin gefunden hatten.
Opfer der Flammen #
Im April 1945 wurde Präuschers Panopticum mit dem großen Praterbrand vernichtet und nur wenige Figuren konnten gerettet werden. Rosl Frankfurt (1899-1985), einer Enkelin von Hermann Präuscher, war es gelungen, einen kleinen Teil der Objekte aus den Flammen zu sichern. Sie führte das Panopticum weiter und wird in der ersten August-Ausgabe 1959 der wöchentlich erschienen Frauenzeitschrift „Samstag“ zitiert: „Wir wollen den Leuten nicht nur Kuriositäten zeigen, sondern auch etwas fürs Gehirnkastl.“ Sie fügt hinzu: „Wenn ein Betrunkener ins Museum hereinkommt, zeige ich ihm als Erstes die Säuferleber. Das soll ihn abschrecken, weiterzutrinken. Und glauben Sie mir, das hat schon bei manchem geholfen.“
Doch bald mussten auch jene Objekte, die den Angriff überstanden hatten, aufgrund von Geldnöten verkauft werden. Acht Wachsfiguren und 68 Vitrinen mit anatomischen Wachsnachbildungen wurden 1956 im Dorotheum versteigert. Die gesamte Sammlung wurde angeblich von der Antiquitätenhändlerin Heintschel-Heinegg und der Künstlerin Elisabeth Wong für 3000 Schilling erworben. Die beiden hatten Präuschers Hinterlassenschaft später an verschiedene Klienten weiterverkauft. Die Stücke wurden in alle Himmelsrichtungen zerstreut, nur ein paar wenige können bis heute sichergestellt werden: darunter ein anatomisches Präparat im Technischen Museum Wien und ein Indianerkopf aus Wachs in der Kunstkammer Georg Laue in München.
Doch damit war es mit dem Panopticum noch nicht ganz vorbei: Das Nachfolgeetablissement war ein Sexmuseum, das von einem Herrn Schwingsmehl geführt wurde: schmuddliger und weniger pädagogisch, dafür aber auch nicht so schockierend wie Präuschers ehemaliger Tempel der Absonderlichkeiten. Nur ein Präparat schaffte es noch, in Präuscher’scher Tradition zu gruseln, wie ein Artikel von Heino Seitler vom 30. Oktober 1958 in „Der Komet“ beschreibt. Demzufolge wurde auf einem Dachboden in Wien eine Wachsfigur deponiert und fortan nicht weiter beachtet, bis eine ältere Dame zufällig darauf stieß und einen fürchterlichen Schock erlitt. Sie rief die Polizei: Leichenfund! Ihre Bestürzung wich erst, als die Polizei den Sachverhalt aufklärte.
Hermann Präuscher hingegen ruht bereits seit 1896 wohlig unter der Erde, nachdem ein feierlich- repräsentatives Begräbnis abgehalten worden war. 1963 erwies ihm die Stadt Wien eine späte Ehre, und der Präuscherplatz im Prater wurde nach ihm benannt. Das Sexmuseum schloss Ende der 1990er Jahre endgültig seine Pforten, was allerdings nicht heißt, dass der Trieb des Menschen, bizarre bis erschreckende Phänomene zu sehen, erloschen ist. Ganz im Gegenteil sind diese heutzutage ins Unterhaltungsfernsehen vorgerückt, und das Internet ist eine nie enden wollende Freakshow ohne moralische Bindungen. Aber auch in „Bildungszirkeln“ ist jene voyeuristische Neugier allgegenwärtig, so etwa in Gunther von Hagens Ausstellung „Körperwelten“, in der menschliche Präparate und ganze Leichen präsentiert werden. Die internationale Wanderausstellung konnte bereits zig Millionen Besucher für sich gewinnen. So unwahrscheinlich es auch ist, dass man seine Haut an Präuscher spenden konnte, so sicher ist es, dass man seinen Körper von Hagens Ausstellung vermachen kann. Doch es gibt eine Gemeinsamkeit von Präuschers Panopticum und den „Körperwelten“: Beide sollten laut ihren Erschaffern keinen sensationslüsternen Zweck erfüllen, sondern „zur Selbsterkenntnis des Menschen“ beitragen.
Wiener Prater G'schichten!#
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