Unfassbare Welten #
Schon 1922 trug der US-amerikanische Autor und Denker Walter Lippmann wesentlich zum Verständnis von Information bei. Sein Buch „Die öffentliche Meinung“ sollte gerade heute (wieder) gelesen werden. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (18. Juli 2019)
Von
Otto Friedrich
Jenseits des Atlantiks gehört er zu den wichtigsten politischen und medientheoretischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Diesseits ist Walter Lippmann (1889–1974) wenig bekannt geblieben, obwohl er an der Wiege prägender Begrifflichkeiten stand, so an der Ausformulierung des Neoliberalismus (wiewohl er sich nach dem Zweiten Weltkrieg von dessen wirtschaftstheoretischen Vätern wie Friedrich von Hayek wieder entfernte). Auch die politische Metapher vom „Kalten Krieg“ wurde von Lippmann entscheidend mitgeprägt, insbesondere durch sein Buch „The Cold War“ aus 1947. Aber schon im Ersten Weltkrieg war Lippmann einflussreich, er gehörte zum Beraterstab Woodrow Wilsons und war an der Formulierung von dessen „Vierzehn Punkten“ beteiligt. Aber vor allem haben Lippmanns medienkritische Einsichten sein Leben überdauert. Sein 1922 erschienenes Buch „Public Opinion“ hat in seiner klarsichtigen Analyse kaum an Aktualität eingebüßt. Der Westend- Verlag hat vor Jahresfrist eine neue Ausgabe auf Deutsch von „Die öffentliche Meinung“ herausgebracht, und es zahlt sich aus, das brillant geschriebene und mit vielen Beispielen untermauerte Werk auch mit den medienkritischen Augen von heute zu lesen. Einfach frappant, was schon Lippmann beschreibt, und was für die Fake- News-Welt von heute gleichermaßen gilt.
Naturgemäß beziehen sich die Beispiele auf die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Jahre unmittelbar danach, das vorherrschende Massenkommunikationsmittel waren die Zeitungen, das Radio erlebte gerade seine Anfangsjahre. Aber die Grundsätze der Lippmann’schen Beobachtung treffen auch in der Online- und Social-Media- Welt den Punkt.
Nachricht sind nicht „Wahrheit“ #
Der Redakteur beschäftigt sich mit den Meldungen. Er sitzt in seinem Büro, liest sie, und nur selten beobachtet er einen darüber hinausgehenden Teil der Ereignisse selbst […] Er arbeitet unter ungeheurem Druck, denn der Wettbewerb der Zeitungen ist oft eine Sache von Minuten. Jede Meldung erfordert ein rasches, aber komplexes Urteil. Es muss verständlich sein, muss in Beziehung zu ebenso verständlichen anderen Meldungen gesetzt, je nach seinem voraussichtlichen Interesse für das Publikum hochgespielt oder abgeschwächt werden, wie es eben der Redakteur für richtig hält. Ohne Standardisierung, ohne Stereotypen, ohne Routineurteile, ohne eine ziemlich rücksichtslose Vernachlässigung der Feinheiten, würde der Redakteur bald an Aufregungen sterben.
Solches gilt ohne einen einzigen Abstrich gleichermaßen für den Medienmacher von heute. Das Zitat zeigt die grundsätzliche Skepsis von Lippmann, aber auch aller nach- folgenden Medientheoretiker über so etwas wie „Objektivität“ oder absoluter Wahrheit von Nachrichten. Lippmanns Verdienst besteht darin, dass er schon vor 100 Jahren die Zeit-, Orts- und Umstandsgebundenheit von Information erkannt und beschrieben hat.
Er benennt da die Schwierigkeit US-amerikanischer Medien anno 1914, die beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einem Thema konfrontiert waren, über das sie keine vorhergehende Erfahrung besaßen. Also, so Lippmann, hielt man sich an die Berichterstattung aus England, weil es finanziell günstiger war, dort Korrespondenten zu haben oder zu telegrafieren, und weil es für amerikanische Journalisten auch einfacher [war], englische Zeitungen zu lesen als andere. Auch diese Beschreibung stellt für heutige Leser ein Déjà-vu dar.
Für Lippmann ist Demokratie idealtypisch nur mit einer umfassenden, nicht von Interessen geleiteten Information möglich. Derartige Information gibt es aber nicht. Diese wäre nur möglich, wenn die Menschen Zugang zur äußeren Welt hätten. Lippmann postuliert jedoch, dass die Menschen nur auf Bilder reagieren, auf die je eigenen Vorstellungen der Welt: Denn die reale Umgebung ist insgesamt zu groß, zu komplex und auch zu fließend, um direkt erfasst zu werden. Wir sind nicht dafür ausgerüstet, es mit so viel Subtilität, mit so großer Vielfalt, mit so vielen Verwandlungen und Kombinationen aufnehmen zu können. Obgleich wir in dieser Umwelt handeln müssen, müssen wir sie erst in einem einfacheren Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können.
Lippmann geht nun davon aus, dass die öffentliche Meinung von der Unmöglichkeit determiniert ist, komplexe Wirklichkeiten auch tatsächlich zu erfassen: Wer die öffentliche Meinung analysieren will, muss daher mit der Erkenntnis der Dreiecksbeziehung zwischen dem Schauplatz, dem Bild des Menschen von diesem Schauplatz und der Reaktion des Menschen auf dieses Bild, die sich wiederum selbst auf dem Schauplatz ereignet, beginnen.
Lippmann macht in plastischen Beispielen darauf aufmerksam, dass man diese Gesetzmäßigkeiten verstehen muss, um öffentliche Meinung und deren Verhalten zu zu begreifen. Er legt dar, dass politische Akteure dadurch die öffentliche Meinung für sich nutzbar machen können bzw. wie diese aufgrund derartiger Kenntnisse zu manipulieren ist. Auch dafür wartet er mit zahllosen Beispielen aus der Propaganda des Ersten Weltkriegs wie aus US-amerikanischer Innenpolitik, insbesondere Präsidentschaftswahlkämpfen auf. Wer meinte, erst die großen TV-Debatten hätten ab den 1950ern aus der US-Politik eine große Show gemacht (wie es Lippmanns „Nachfahre“ Neil Postman (1931–2003) analysierte), stellt fest, dass dies schon im „Zeitungszeitalter“ gang und gäbe war.
Ein wesentlicher Begriff, den Lippmann in die medientheoretische und politische Debatte einführt, ist jener der Stereotype, die in der Weltwahrnehmung und der Einordnung von Information eine immense Rolle spielen. Auch da wartet er mit einem Beispiel aus dem Ersten Weltkrieg auf, nämlich der Behauptung der deutschen Kriegspropaganda, dass belgische katholische Priester die treibende Kraft hinter Heckenschützen gegen die deutschen Besatzer gewesen wären. Ein Gräuelmärchen, schreibt Lippmann, das aber für die deutsche Kampf- moral wider die Belgier sehr nützlich war.
Als würde es heute gesagt … #
Es ist evident, dass Fragen nach Wahrheit oder Wirklichkeit so kaum in den Blick kommen. Auch dazu hält Lippmann Drastisches bereit: Wenn zwei Nationen sich ein Gebiet streitig machen, macht es viel aus, ob die Leute die Verhandlungen als ein Grundstücksgeschäft, als einen Versuch, das Gegenüber zu demütigen, oder […] als einen Raub betrachten. Derartige Aussagen erscheinen – etwa im Licht der Politik eines Donald Trump – gleichfalls so, als würden sie heute gesagt.
Lippmanns Analyse mündet jedoch in Schlussfolgerungen, die nicht unwidersprochen bleiben können. Im Rückgriff auf Platon plädiert Lippmann für eine Expertokratie, da eben die idealtypische Demokratie aufgrund der nicht möglichen quasi-reinen Information unverwirklichbar sei. So verständlich dieses Destillat aus Lippmanns Darlegungen scheinen mag, wird man ihm entgegentreten, zumal ja die Experten- Herrschaft auch ihrerseits nur idealtypisch funktionieren kann und andere Grundfesten der Demokratie wie die gleiche Würde aller Menschen doch viel schwerer wiegen.
Man kann Lippmanns Conclusio aber auch als Appell zu mehr Bildung und Aufklärung lesen, um der Komplexität der Wirklichkeit zumindest näherzukommen. In diesem Sinn ist dem Rezensenten der Wochenzeitung Die Zeit beizupflichten, der in seiner Kritik der ersten deutschen Ausgabe von „Die öffentliche Meinung“ anno 1964 schrieb: „Sein Wunsch allerdings, Erzieher und Lehrer möchten dazu beitragen, dass unsere öffentlichen Meinungen die Umwelt besser in den Griff bekommen, ist noch immer unerfüllt. Doch hat er recht: Das ist der Weg, auf dem der gewaltige, zensierende, stereotypisierende und dramatisierende Apparat liquidiert werden kann.“
Die öffentliche Meinung Wie sie entsteht und manipuliert wird Von Walter Lippmann.
Mit einer Einführung von Walter Ötsch und Silja Graupe
Westend Verlag 2018
382 Seiten, geb.,
€ 26,80