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Die Welt durch Kultur erklären #

Das Feuilleton der "Wiener Zeitung" wurde vor 13 Jahren neu gegründet. Am Anspruch hat sich seither nichts geändert.#


Von der Wiener Zeitung (17. März 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Bernhard Baumgartner


Lesender Gast im Cafe Hawelka in Wien
Lesender Gast im Cafe Hawelka in Wien
Foto: © IMAGNO

Zugegeben, 13 Jahre sind ein ungewöhnliches Jubiläum, um größere Feierlichkeiten auszurufen. Obwohl ja auch so mancher Gymnasiast 13 Jahre bis zur Maturafeier braucht und so manche Ehe sogar deutlich vor dem 13. Jahrestag zu Bruch geht. Insofern sei uns das etwas "ungerade" Jubiläum verziehen. Zumal wir die 10 Jahre in den Anfängen des Corona-Chaos schlicht und einfach verschwitzt haben, und auf die 20 Jahre warten . .?

Nun, sagen wir so: Das Risiko ist uns als Team des Feuilletons der "Wiener Zeitung" zu groß. Denn Sie haben sicher schon davon gehört, dass sich in wenigen Wochen nichts weniger als der Österreichische Nationalrat mit der Frage unseres Fortbestehens befassen wird. Insofern kann man die Zahl 13 als beides sehen: als ein Symbol des Glückwunsches oder als einen Vorboten der Katastrophe. Ein glückliches, dralles, rosa Neujahrsschweinchen oder doch die bucklige, schwarze Katze - was wird es sein?

Vor 13 Jahren, genau am 21. März 2010, erschien die erste Ausgabe des im Zuge einer großen Blattreform unter Chefredakteur Reinhard Göweil neu gegründeten Feuilletons der "Wiener Zeitung". Es war das erste Mal seit der Nazi-Zeit, dass die "Wiener Zeitung" wieder ein Feuilleton hatte und damit eine stolze, in Summe mehr als 100 Jahre zurückreichende Tradition mit neuem Leben erfüllte. Fünf bis sechs Zeitungsseiten Feuilleton täglich waren - und sind es heute noch - rund doppelt so viel Platz, wie die Kolleginnen und Kollegen etwa in "Presse" und "Standard" zur Verfügung haben. An die deutschen Geschwister von "FAZ" und "Welt" reichen wir platzmäßig nicht heran, aber es fehlt nicht viel. Das gibt uns die Chance, Journalismus ganzheitlich zu betreiben, genauer hinzusehen und Themen zu bringen, die weit über das Pflichtprogramm hinausgehen.

Judith Belfkih (heute Teil der Chefredaktion) kam damals vom "Kurier", um Feuilleton-Chefin zu werden, ich als ihr Stellvertreter war bereits als Chronik-Chef in der "WZ" aktiv, nachdem ich ein paar Jahre zuvor das neue Feuilleton der "Presse" mitgründen hatte dürfen. Kultur, Medien, Wissenschaft, aber auch Zeitgeschehen und Debatte, Themen wie Integration, Religion oder Alltagskultur hatten von Beginn an ihren Platz in unserem neuen Fenster zur Welt.

Es war uns klar, dass Feuilleton im besten Sinne nicht die Summe dieser Einzelteile sein kann. Es muss viel mehr sein! Es muss mal die Stimme der Kritik, mal die Stimme der Vernunft sein. Feuilleton ist der trotzige Versuch, den Kulturbegriff in der breitestmöglichen Form zu leben und zu beschreiben. Alles ist Kultur, alles ist Theater, alles ist Medien; sei es die Theatralik eines Fußballspiels mit all seinen sorgsam eingeübten Ritualen oder die minutiös geprobte, auf maximale Wirkung inszenierte politische Rede.

Das Feuilleton hat das Privileg, alles durch die Brille der Kultur zu sehen und daraus womöglich völlig andere Schlüsse zu ziehen als die Kolleginnen und Kollegen in Politik, Wirtschaft und Sport. Und so erzählt man sich noch heute von einem Chefredakteur, der klagte, man möge im Feuilleton nicht prinzipiell das Gegenteil von dem schreiben, was er im Leitartikel geschrieben hatte.

Zugegeben, den Gefallen konnten wir dem Mann leider nicht immer tun. Und blickt man etwa wiederum auf die "FAZ", kam das etwa unter dem legendären Frank Schirrmacher durchaus vor. Warum? Weil Menschen völlig anderer Prägung, Sozialisation, aber auch Ausbildung Dinge eben mitunter gar nicht gleich sehen können. Ein Jurist oder Ökonom hat eben einen anderen Blick auf die Welt als ein Literat, Kritiker oder Naturwissenschaftler. Und das ist gut so. Diese Unterschiede leben wir - und heute feiern wir sie auch. Die Antwort auf die Frage nach dem "Wer hat recht?" ist simpel: Beide.

Die Wurzeln im Jahr 1848#

Die Schultern, auf denen wir als Feuilleton der Gegenwart stehen, sind breit und wuchtig. Wir wurzeln in einer tiefen Tradition, die uns direkt ins Revolutionsjahr 1848 führt, als die österreichischen Blätter Feuilletons nach französischem Vorbild gründeten, weil Meinung nun möglich war. Gerade die "Wiener Zeitung" mit ihrer Abendausgabe hatte ein breites Feuilleton, randvoll mit Texten aller Arten: Romane, Kritiken, Alltagsbetrachtungen, aber auch Lyrik oder Essays. Viele Schriftsteller schrieben seinerzeit im Feuilleton der "WZ", denn die Trennung zwischen Schriftsteller und Journalist war damals nicht gegeben. Wer schrieb, war Schriftsteller, ob in einem Buch oder in der Zeitung, war nebensächlich. So war etwa Leopold von Sacher-Masoch eifriger Autor im "WZ"-Feuilleton.

Unter Chefredakteur Friedrich Uhl (1872 bis 1900 im Amt) blühte das Feuilleton nachgerade auf. Uhl selbst kam aus dem Feuilleton. Das war keine Seltenheit: Viele Chefredakteure kamen nicht aus dem trockenen, politischen Teil, sondern aus der bunten Welt des Feuilletons, das die Obrigkeit immer ein bisschen weniger interessierte und das sich daher etwas mehr erlauben durfte als der Rest der Zeitung. Auch Uhls Tochter Frida, übrigens mit dem Dramatiker August Strindberg verheiratet, war prominente Autorin.

Wege um die Zensur herum#

Noch weiter zurückgeblättert findet man in den 1760er Jahren einen Teil der Zeitung namens "Gelehrte Nachrichten": Hier ging es um Beiträge, Buchrezensionen und Debatten für Gelehrte aller Richtungen und sonstige Interessierte. In der Tat kann man hier, immerhin mitten in der Hochblüte der staatlichen Zensur, den Vorläufer des Wissenschaftsjournalismus erkennen, und der begann in Wien in dieser Zeitung.

In seinem Text "Die Welt von gestern" beschreibt Stefan Zweig seine erste schreiberischen Gehversuchen als junger Mann, der sich 1905 beim mächtigen Feuilleton-Chef der "Neue Freien Presse" vorstellte und ihm eine Novelle anbot: "Er nahm sie, zählte die handgeschriebenen Seiten, sah dann gespannt die erste an, lehnte sich zurück. Mit einem gewissen Schreck merkte ich, dass er in meiner Gegenwart sofort zu lesen begann. Die Minuten dauerten mir lange . . ." Sein Gegenüber, der Feuilleton-Chef, war übrigens Theodor Herzl, dessen politische Schriften später zur Staatsgründung Israels beitrugen. Feuilleton als Motor der Veränderung. Feuilleton noch erwünscht?

Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen sicher die Stelle, an der bei schönen Naturdokumentationen im Fernsehen der Sprecher Sorgenfalten bekommt. Er sagt dann mit etwas tieferer Stimme Sätze wie: "Aber leider, leider ist das alles bedroht." Der Nationalrat, Sie erinnern sich? Wir wissen nicht, ob unsere Eigentümerin, die Republik Österreich, uns gestattet, dieses Feuilleton in ein paar Monaten noch zu machen. Und wie viele Menschen wir dann noch sein werden. Vielleicht ist plötzlich auch ein ganz anderer Journalismus gewünscht - das ist unser Damokles-Schwert, so ehrlich muss man bei einem Jubiläum auch sein.

Womit wir irgendwie wieder bei Uhl wären, dem legendären "WZ"-Chefredakteur in der Blüte des Feuilletons. Der wurde nämlich um 1900 "gecancelt", würde man heute sagen. Und zwar von keinem Geringeren als dem Thronfolger Franz Ferdinand persönlich. Doch solche düstere Gedanken werden uns nicht daran hindern, uns jeden Tag zu überlegen, wie wir unsere Leserinnen und Leser überraschen können. Und sei es mit einem ungeraden Jubiläum.

Wiener Zeitung, 17. März 2023


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