Automotive 6: Umbruch als Normalzustand#
(Die permanente technische Revolution)#
von Martin Krusche
Stellen Sie sich Österreich als Operette vor, die in einen Science Fiction Film kippt. Dazu paßt die aktuelle Weihnachtsempfehlung für Familienfeste, wie sie derzeit in sozialen Netzwerken kursiert, genannt „Sissi-Saufen“. Die ganze Familie haut sich in Serie jene drei Sissi-Film rein, mit denen Romy Schneider sehr bekannt wurde. Wann immer in den Filmen das Wort Majestät erklingt, springen alle auf, brüllen „Lang lebe die Kaiserin!“ und leeren ein Glas Schnaps. Wer als letzter umfällt, hat gewonnen.
Zugegeben, das ist keine all zu seriöse Einleitung für unsere aktuelle Themenstellung in einer Serie von Konferenzen, welche der Frage gewidmet sind, was denn nun eigentlich eine gute Frage sei, wenn wir über die Vierte Industrielle Revolution nachdenken.
Nein, ich scherze nicht! Wir sind gleichermaßen ernsthaft, fröhlich und frech in diesen Debatten unterwegs. Das erlebe ich zum Glück oft genug, wo ich mit überaus sachkundigen Menschen zu tun habe, die jeweils ihr Metier kennen und dabei keine Lust haben, einander etwas vorzumachen.
Dazu trafen sich eben im Foyer des Gleisdofer G20 (auf der Höhe des traditionseichen Industriebetriebes Binder +Co) einige versierte Personen, die – von mir abgesehen – ausnahmslos reiche Erfahrung mit der Industrie haben, und zwar nicht bloß in Österreich, sondern international.
Die Zusammensetzung dieser Runde für Gespräche zur kritischen Beleuchtung des überaus lockeren Umgangs mit dem Begriff Industrie 4.0 war äußerst vielversprechend, was die Mischung von Sachkompetenz, Weltgewandtheit und Humor betrifft.
Zwei regionale Unternehmer machten auf Anhieb deutlich, daß man es in ihren Geschäften stets mit der Welt zu tun hat, mit allem außerhalb des Tellerrandes, was bei ihnen vor allem auch ein Pendeln zwischen europäischen und asiatischen Mentalitäts-Ensembles bedeutet. Christian Schweighofer (Mediasystem) und Ewald Ulrich (Ana-U) leiten kleine Betriebe, in denen High Tech-Produkte entwickelt und produziert werden.
Im Kontrast dazu sprach ein Gast aus Wien für einen Betrieb ganz anderer Dimension. Norbert Gall ist der Marketing-Boss von Toyota/Lexus Austria, derzeit der Welt größter Automobilhersteller. Ähnlich Mirjana Peitler-Selakov. Sie ist als Senior Process Consultant bei Kugler Maag in solchen Dimensionen erfahren, da wiederum auf der Entwicklungsseite.
Entwicklung ist auch die Profession von Markus Rudolf (IntelligentEmotion), der mit diesem Metier übrigens aufgewachsen ist, da sein Vater einst Leiter der Entwicklung und schließlich Werksdirektor des Grazer Puchwerks gewesen ist. In seinen aktuellen Arbeitsvorhaben hat er mit Alois Schadler zu tun, der gelernter Mechaniker ist, die Praxis in Werkstatt und Industrie kennt, aber auch seit rund 30 Jahren in der Erwachsenenbildung mit Kompetenzvermittlung befaßt ist.
Der bisherige Gesprächsverlauf hat deutlich gemacht, daß „Industrie 4.0“ ein Containerbegriff aus der Marketing-Welt ist, den man derzeit noch ziemlich beliebig mit Bedeutungen füllen kann, was uns bezüglich aktueller Klärungen wenig weiterhilft.
Nachdem wir alle erlebt haben, daß sich innerhalb unserer Biographien nun schon die zweite Industrielle Revolution ereignet, ist uns auf jeden Fall klar, daß wir Menschen nicht mehr ausreichende Adaptionsphasen haben, um uns mit neuen Technologien vertraut zu machen. Das wirft auf jeden Fall soziale und kulturelle Probleme auf, für die es noch viel zu wenige Lösungskonzepte gibt.
Peitler und Rudolf betonten diesen Umbruch, der von Menschen zum Beispiel verlangt, nicht mehr in Komponenten, sondern in Funktionen zu denken. Dieses „4.0“ bedeute demnach, aktuelle Änderungen würden uns darauf hinstoßen, funktionsorientierte Entwicklungen anzustreben. Es geht nicht mehr um hier die Bremse und da der Kabelbaum etc., also die verschiedenen Komponenten in einzelnen Kompetenzbereichen mit einzelnen Chefs unterzubringen.
Statt dessen muß das Ganze gesehen und nach den Funktionen im System bearbeitet werden, was vielleicht in alter Sprachregelung heißen müßte, das muß alles „ganzheitlicher“ betrachtet werden. Vielleicht ist das einer der brisantesten Unterschiede zu Bedingungen der Zweiten Industriellen Revolution, als Massenfertigung via Fließband in Gang kam, wo die Blue Collar Workers nicht mehr das Ganze zu verstehen brauchten, sondern nur die Handgriffe in jener Sektion, in die man sie hingestellt hatte.
Das bedeutet möglicherweise eine wichtige soziokulturelle Kursänderung, denn wir wissen längst, daß die arbeitsteilige Welt Menschen Kummer bereitet, sogar beschädigt, wo man bloß noch routinehaft an einzelnen Komponenten arbeitet, aber dabei weder den größeren Zusammenhang, noch das fertige Produkt vor Augen hat.
In der Kooperation mit asiatischen Fachkräften wird außerdem deutlich: „Europa hat keine Fehlerkultur.“ Es fällt uns anscheinend mehrheitlich schwer, mit Fehlern offen umzugehen, auf daß sich daraus flott Schlüsse ziehen und Verbesserungen umsetzen ließen. Gall betonte die wichtige Korrelation zwischen einer Qualität der Produkte und der Transparenz im offenen Umgang mit Fehlern. Ulrich meinte, auf die Art habe Europa sehr viel Know how verloren.
Gall meinte: „Wenn in Japan ein Arbeiter die Fertigungsstraße anhält, weil ihm aufgefallen ist, was man besser machen könnte, steht der ganze Betrieb, aber man bedankt sich bei ihm für den Vorschlag und versucht, was draus zu entwickeln. Wenn das bei uns jemand macht, ist er wahrscheinlich seinen Job los.“ In Japan nenn man das Kaizen, eine ständige Veränderung zum Besseren. Gall unterstreicht: „Man kann immer was verbessern.“
Ein großer Teil der Debatten in der ersten Gesprächsrunde blieb dem menschlichen Umgang gewidmet, wie wir miteinander vorankommen oder im Kreis rennen. Anscheinend ein sehr prominentes Motiv, wenn Menschen, die von der Industriepraxis kommen, aus dem Nähkästchen plaudern. Abteilung tolle Performance in der Selbstdarstellung bei mäßigen Kompetenzen in der Praxis etc. Österreichisch ausgedrückt: es menschelt heftig. Das kann ruhig auch sehr, sehr teuer werden.
Ausgesprochen brisant ist dagegen, wie und wohin sich Technologie praktisch hinter unseren Rücken entwickelt hat, allerdings schon seit wenigstens einem haben Jahrhundert. Und das mit einer speziellen Qualität, die es so in den ersten beiden Industriellen Revolutionen noch nicht gab. Damit meine ich etwas, das wir nun schon mehrfach erörtert haben: Die von uns geschaffenen Werkzeuge wenden sich von uns ab, um sich eigenen Zwecken zu widmen, während sie bei Verwendung seit jeher auf uns verändernd zurückgewirkt haben.
Mag sein, das klingt vielen unter uns noch zu sehr nach Science Fiction, aber es ist längst technische Realität. Für Schweighofer und Ulrich hat das ganz klar Dimensionen, die sich so zusammenfassen lassen: Wir Menschen produzieren Grundlagen und Rahmenbedingungen, um eine neue Spezies entstehen zu lassen, die aus diesen Maschinensystemen hervorgeht und keine biologische Art im bisherigen Sinn ist.
Schweighofer spricht da von einer Singularität, zu der wir uns Menschen etwa so verhalten könnten, wie sich heute Haustiere zu uns verhalten; in einem enormen Gefälle. Davor müssen wir aber noch jenen Teil der Entwicklung bewältigen, der sich als Ende menschlicher Massenbeschäftigung in konventionellen Betrieben abzeichnet. Güterproduktion und Dienstleistung, selbst intellektuelle Arbeit wie beispielweise das Schreiben von Reportagen oder das Erstellen medizinischer Diagnosen, werde zunehmend von Maschinensystem erledigt, vielfach effizienter als es Menschen tun könnten.
Ich beende hier den ersten Bericht über diese Serie an Debatten, welche im 2017er Kunstsymposion von Kultur.at/Kunst Ost einige markante Momente hatte, die heuer auch von Fokus Freiberg befeuert wurde und die hier im Online-Projekt „Mensch und Maschine“ dokumentiert wird. (Gehen Sie davon aus, daß es hier eine weiterführende Berichterstattung geben wird.)
Damit zeichnet sich unter anderem auch ein Schlußakkord des zeitlich begrenzten LEADER-Kulturprojektes „Vom Pferd zum Sattelschlepper“ ab. Das war sehr wesentlich unserer Mobilitätsgeschichte gewidmet, anhand derer sich verdeutlichen läßt, was es bedeutet, daß wir seit rund 200 Jahren in einer permanenten technischen Revolution leben. Deren ebenso permanente Beschleunigung erreicht anscheinend noch kein Ende, was immer vielfältigere „Beschleunigungsopfer“ produziert.
Aus diesem heurigen Arbeitsverlauf werden wir einige Anregungen für nächste Vorhaben mitnehmen können. Bei Kultur.at wird weiter untersucht, welche Schnittpunkte zwischen Volkskultur, Popkultur und Gegenwartskunst Wirkung zeigen. In der Kooperation mit anderen Kulturinitiativen wird wichtig bleiben, was ein Wechselspiel aus Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft ergibt. (Das 2018er Kunstsymposion ist schon in Arbeit!)
Die Formulierung „Industrie 4.0“ bleibt vorerst, was sie schon bisher war, ein Produkt der Werbebranche. Damit bekamen die aktuellen Umbrüche zwar ein Fähnlein angesteckt, doch wir werden in weiteren Schritten zu klären haben, wovon derzeit im Detail die Rede ist, wenn solche Themen auf den Tisch kommen. Und wir sind immer noch gefordert, Klarheit zu finden: Was ist denn zu all dem derzeit eine gute Frage?
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