Tempo und Maschinen#
(Weltgeschichte berührt Regionalgeschichte)#
von Martin Krusche
Bei der Frage, was denn nun mit der Vierten Industriellen Revolution genau gemeint sei, nützt uns vor allem einmal der Rückblick, damit sichtbarer wird, worauf sich die heutige Sprachregelung bezieht. Wie wurde da gezählt und vor allem was? Wer weiß zur Zeit, wohin wir mit all dem geraten sind? Momentan ist wohl kaum noch jemand taub dafür, daß wir uns in erheblichen Umwälzungen befinden. Das wird alles laut und deutlich, während vieles, was an technischen Innovationen unsere Arbeitswelt verändert, erst langsam in das Bewußtsein der Menschen sickert. Also sind wir gefordert, stückweise anschaulich zu machen, was uns in der Sache aktuell umgibt, was da auf unser aller Leben einwirkt.
Das verlangt auch nach einigen Blicken in die Vergangenheit, um Kontraste in das vorerst noch unscharfe Bild zu bekommen. Und vielleicht ist es ohnehin so, daß dieses Ausmaß technischer Innovation im derzeit üblichen Tempo gar nicht mehr gesamt angeschaut werden kann. Setzen wir also aus verschiedenen Elementen mehrere Mosaike zusammen, die wir aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Entwickeln wir dazu eine Kultur der laufenden Erzählungen über das, was wir sehen, was uns auffällt. Erzählen wir einander davon.
Genau das stünde so übrigens in der Tradition einiger Jahrtausende abendländischer und morgenländischer Kultur. Dieser Austausch der Erzählungen, Lieder, Bilder, Ansichten, Geschmäcker. Es ist genau diese Vielfalt der Denkweisen und Sichtweisen, der höchst unterschiedlichen Erfahrungen und eben der laufende Austausch darüber, wodurch Europa für lange Zeit eine so exponierte Position in der Welt hatte.
Aber was heißt das nun konkret? Vielleicht fühlt es sich hinreichend nach Veränderungen an, wenn auf dem Boulevard heftig debattiert wird, daß wir selbstfahrende Autos im Alltag noch erleben könnten und daß Computersysteme die Arbeit von Menschen in den Banken, in den Buchhaltungen, im Versicherungswesen, in der Juristerei und sogar in der Medizin mehr und mehr übernehmen. Aber auch im Haushalt, in der Altenpflege und natürlich bei der Post.
Ganz deutlich spürt man etwas von diesen Umbrüchen, wenn man mit Menschen zu tun hat, die sich in der Tradition des alten Handwerks sehen. Damit sind nicht bloß volkskundlich unterfütterte Bereiche wie Korbflechten, Töpfern, Schnitzen, Kerzenziehen oder Stoffdrucken gemeint. Das bezeiht sich natürlich auch auf eine Volkskultur in der technischen Welt, wie wir sie seit dem 18. Jahrhundert beschrieben finden. Die Arbeit am Ganzen, selbstbestimmt, vor allem auch in den Abläufen, gestützt auf Handfertigkeit und Erfahrung im Umgang mit dem richtigen Material.
Die wuchtigen und vor allem zunehmende schnelleren Veränderungsschübe kamen mit der Ersten Industriellen Revolution einher, deren Beginn ein Datum hat: den 5. Januar 1769. Der schottische Ingenieur James Watt verbesserte die Dampfmaschine auf eine Art, durch die sie für den Alltagsgebrauch als stationäre und mobile Kraftquelle der Wirtschaft völlig neue Dimensionen eröffnete.
Am jenem 5.1.1769 erhielt Watt sein Patent für die erste direktwirkende Niederdruck-Dampfmaschine. Im März des gleichen Jahres erprobte Nicholas Cugnot in Paris einen Prototypen seines Dampfwagens („Fardier“). Damit darf er als Schöpfer des ersten tauglichen „pferdelosen Wagens“ gelten. Er hatte sozusagen die Ära des Automobils aufgemacht, da war Carl Benz noch lange nicht geboren.
Damit war in Gang gekommen, was wir die Erste Industrielle Revolution nennen. Die zweite handelt von Konzepten der Automatisierung und Rationalisierung. Dabei ging es um Massenfertigung, also um eine Erhöhung der Produktivität und der Stückzahlen, wodurch natürlich die Anschaffungskosten der Produkte sinken konnten. Damit entwickelten Europa und Amerika allerdings einen enormen Hunger nach Rohstoffen, was die übrige Welt hart zu spüren bekam.
In jenem Abschnitt erscheint das Jahr 1913 auffallend. Henry Ford hatte diesen Prozeß am markantesten realisiert. Die Einführung des Fließbandes. Ford war freilich nicht der Erste und nicht der Einzige. Allerdings verlangte das enorme Investitionen, die in Europa erst später aufgebracht wurden. Aber 1913 gab es die Anordnung der Produktion entlang eines Zeitpfeiles und Ablaufschemas als Vorbotin des Fließbandes auch in Graz.
Damals berichtete die Allgemeine Automobil-Zeitung von neuen Hallen in den Puchwerken, die nun jene Maschinen (Automaten und Halbautomaten) beherbergten, dank derer die Serienfertigung überhaupt erst nennenswerte Dimensionen erreichte. Davor hieß Serienproduktion in der Puch’schen Automobilfertigung, daß von einem Modell zum Beispiel gerade einmal sechs Einheiten gebaut wurden.
Aus jener Pionier-Ära in Graz stammt übrigens der Albl Phönix aus dem Jahr 1902. Eine zarte Voiturette (franz: Wägelchen) mit einem Einzylinder-Schnüffelmotor. Ein Produkt der Firma von Benedict Albl, der vor allem mit hervorragenden Fahrrädern reüssiert hatte und kurze Zeit sogar Dienstgeber des jungen Johann Puch gewesen war. Später unterlag Albl seinem Konkurrenten Puch im Ringen um Produktivität und Marktanteile. (Siehe dazu auch: "Phönix aus der Garage"!)
Damit wären wir bei einem anschaulichen Beispiel des Umbruchs von der Ersten zur Zweiten Industriellen Revolution. Für diesen Sprung waren nicht nur technische Innovationen, sondern – wie erwähnt – auch große Investitionen notwendig. Außerdem brauchten selbst so exklusive Güter wie Kraftfahrzeuge, die nebst Firmen und Behörden nur einem kleinen, wohlhabenden Personenkreis erschwinglich waren, ein Vetriebsnetz und Serviceeinrichtungen. Kurz gesagt: Johann Puch wurde eine internationale Größe, Benedict Albl verschwand vom Markt. Übrigens haben Henry Ford und Johann Puch gleichermaßen auf den Bedarf nach qualifizierten Facharbeitern mit der Einrichtungen von Lehrwerkstätten reagiert, die nicht Teil der laufenden Produktion waren, sondern eigenständige Teile des Betriebs.
In diesem Jänner 2018 zeichnet sich übrigens eine schöne Gelegenheit ab, die bezeichnete Ära in Graz anhand besonderer Artefakte anschaulich zu machen. Ich hatte eben eine Gespräch mit Sepp Schnalzer, dem Besitzer des Albl Phönix, bei dem er seine prinzipielle Bereitschaft äußerte, die Voiturette gemeinsam mit einer Grazer Besonderheit zu zeigen, mit dem einzig erhaltenen von zwei Exemplaren des D&U-Wagens aus der Grazer Schönaugasse, welcher eben von einer Gruppe sachkundiger Enthusiasten restauriert wurde.
Aber ich greife vor. Wie ging es denn im Durchzählen weiter? Als Dritte Industrielle Revolution deuten wir jene Digitalisierung, die in den 1970er Jahren die Wirtschaft umfassend durchdrungen hatte. Im Grazer Werk der Steyr-Daimler-Puch AG, in Thondorf, rechneten Ingenieure damals noch mit Rechenschiebern, als in Wien diverse Konstruktionsbüros schon Rechenzeit in großen Rechenzentren kauften.
Der Taschenrechner erschütterte in meinen Jugendtagen das Schulwesen. Etwa Mitte 1980 hatte ich meinen ersten Personal Computer, was seinerzeit in meinem Freundeskreis noch bestaunt wurde. Heute gehören die PC zu fast jedem Haushalt und die Smartphones unserer Kinder hatten schon vor Jahren mehr Rechenleistung als der Bordcomputer der ersten Mondlandefähre.
Über diesen Abschnitt der Digitalen Revolution brauche ich Ihnen nichts zu erzählen, denn Sie waren alle live dabei. Sie haben auch sicher erlebt, wie in den Schalterhallen der Banken das Personal fast völlig verschwand und dafür Buchungsautomaten die Menschen reihenweise ins Grübeln brachten.
In vielen anderen Winkeln unseres Alltags setzte sich die Digitalisierung flott durch und ab Anfang der 1990er Jahre wurde Österreich mit dem TCP/IP verknüpft, jenem Protokoll, das uns Zugänge zum Internet geebnet hat und da für private Nutzerinnen und Nutzer hauptsächlich zum WWW = World Wide Web. (Siehe dazu auch: "Nette Roboter und neue Computer"!)
Inzwischen kämpfen viele Eltern damit, daß einige ihre Kinder mit der umfassenden Ausrüstung an Smartphones, Spielkonsolen und anderen elektronischen Gadgets nennenswerte Suchtprobleme entwickelt haben. Wer den Jungen das limitieren möchte, riskiert massive Konflikte. Die Gesellschaft ist längst gefordert, sich diesen Problemen intensiv zu widmen.
Derlei war zum Beispiel eben erst Thema in der „Zeit“, weil inzwischen geklärt ist: „Gerade Kinder und Heranwachsende brauchen beim Abschalten Hilfe – und sei es, dass man ihnen von fern den digitalen Stecker ziehen kann.“ (Quelle) Die Debatten laufen, so auch die Untersuchungen: „Noch kann man nicht abschließend sagen, was die Smartphonisierung wirklich für Mensch und Gesellschaft bedeutet.“
Ganz zu schweigen von der interessanten Frage, wie es im Straßenverkehr zuginge, wenn man den Menschen in ihren Autos die elektronischen Assistenzsysteme abschalten würde und sie wieder ganz von Hand fahren müßten, wie wir es in unseren Jugendtagen getan haben. So viel vorerst zur Dritten Industriellen Revolution, die also nicht bloß in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, sondern die Familien durchdrungen hat. Wir genießen längst allerhand Vorteile dieses Technologiesprungs. Wie tief aber die Nachteile gehen, ist nicht einmal annähernd abgeklärt.
Diese paar Blitzlichter mögen deutlich machen, wie massiv wir in all das verstrickt sind, weshalb der aktuelle Umbruch in die Vierte Industrielle Revolution erkennbar von einer sich völlig verändernden Koexistenz der Menschen und Maschinen handelt.
Wie erwähnt, der Albl Phönix von 1902 ist ein Produkt der Ersten Industriellen Revolution, der kühnen Entwicklungsschritte und der Kleinserien. Durch Heinz und Lisl Mesicek von der ÖGHK (Österreichnische Gesellschaft für historisches Kraftfahrwesen) erfuhr ich von einem anderen bemerkenswerten Grazer Produkt. Zwei Geschäftsleute, Rudolf Ditmar und Otto Urban, haben in der steirischen Landeshauptstadt am 5. März 1924 eine „Firma für Automobilkonstruktionen“ gegründet und dafür in der Schönaugasse eine ehemalige Schlosserei gemietet.
Es blieb allerdings bei bloß zwei D&U-Wagen, von denen wir heute nichts mehr wüßten, wenn nicht ein Exemplar auf seltsamen Wegen erhalten geblieben wäre und – was entscheidend ist – ein Kreis engagierter Menschen jüngst beschlossen hätte, das Fahrzeug zu restaurieren sowie seine Geschichte zu ergründen.
Der „Verein zur Förderung der historischen Fahrzeuge der Österr. Automobilfabriken“, dem dieses Fahrzeug gehört, konnte bei seinem Weihnachtsklubabend im November 2017 das Ergebnis erheblicher Anstrengungen präsentieren. Die Restauration hat rund 30.000,00 Euro verschlungen. Dabei ist die Arbeit der „Donnerstagsrunde“ von insgesamt mehr als 3.600 Stunden gar nicht mitgerechten. Lisl Mesicek: „Es war das Fahrzeug von Pfuschern im Laufe der Jahre leider so kaputt-restauriert worden, daß mechanisch vieles erneuert und nachgefertigt werden mußte; und das geht ins Geld!“ Dazu kamen aufwendige Recherchen, denn anfangs schien nicht einmal klar, woher der Motor des D&U stammt und wie viele Einheiten des Wagens ursprünglich gebaut worden sind.
Heinz Mesicek, selbst ein versierter Handwerker, der sich für die Glanzstücke seiner Familie auf Wagen der Marke Steyr spezialisiert hat, war dabei zusätzlich bemüht, mit seinen Verbündeten auch gleich eine Dokumentation dieses Projektes zu erstellen und so ein Stück steirischer Technologiegeschichte zu sichern, was zu einem Buch geführt hat.
Der Ditmar & Urban von 1924 ist ein Beispiel, wie damals Unternehmen beim Umbruch in die Zweite Industrielle Revolution auf der Strecke blieben und der anbrechenden Massenfertigung nicht einmal in die Nähe kamen, sondern in jenen Dimensionen verblieben, die für erste Jahre des Automobilbaues typisch sind. Auch Benedict Albl schaffte diese Entwicklung nicht.
Ich hatte übrigens Gelegenheit, im Jahr 2015 den Albl Phönix bei Mythos Puch II gemeinsam mit einem Prototyp von Magna Steyr zu zeigen, mit dem Mila Aerolight. Eine Leichtbau-Studie mit Erdgasantrieb. Magna Steyr, Nachfolgekonzern der Steyr-Daimler-Puch AG, ordnet dieses Unikat in das A-Segment ein, also in die „Kleinstwagenklasse“. Damit wäre die Automobilbranche mit einigen zukunftsweisenden Konzepten über hundert Jahre nach dem Albl Phönix wieder in der Fahrzeugdimension jener Voiturettes angelangt, mit denen einst die Fabrikanten Richtung Massenproduktion loszogen.
Der Zweizylinder-Erdgasmotor soll dem Aerolight (Leergewicht: 700 Kilogramm) einen CO2-Ausstoß von unter 55 g/km ermöglichen. Der Treibstoff im 55-Liter-Tank dürfte eine Reichweite von etwa 400 Kilometern zulassen. Im Vergleich dazu ist auch die Puch Voiturette von 1906 mit einem Zweizylinder-Motor bestückt und markiert so jene Zeit, da das zahlungskräftige Publikum nach stärkeren Motoren und robusteren Fahrzeugen verlangte, was in Graz die Ära der Vierzylindermotoren einläutete. Nun wird, zumindest was den massenhaften Privatbesitz von Kraftfahrzeugen angeht, die Zukunft sicher den effizienten und sparsamen Leichtbauweisen gehören, während große Brocken genau so, wie in den frühen Tagen des Automobilismus’, wieder das Statement von wenigen Leuten mit reichlich Geld werden dürften.
Von 1906 bis 1913 ging, wie erwähnt, die Entwicklung sprunghaft voran. Der D&U-Wagen steht dabei an der Weggabelung, an der im vorigen Jahrhundert jene Betriebe zurückblieben, die den Sprung von der Werkstatt oder Manufaktur zur Fabrik nicht geschafft haben. Wir erlebten dann eine Massenmotorisierung über den Privatbesitz von Automobilen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das heimische Symbol dafür, der Steyr-Puch 500, kam im September 1957 in Graz auf den Markt, was vor einigen Monat für ein 60 Jahr-Jubiläum gut war. Nun erleben wir eine Phase, wo alle unsere Städte vom Straßenverkehr ziemlich überlastet erscheinen, wo sich Menschen gegen die Vorstellung wehren, daß Autos bald selbst fahren könnten, wo die Kosten für den Automobilerhalt permanent steigen und teils sehr emotionale Debatten über die Zukunft der Volksmotorisierung geführt werden.
Siehe zu diesen Themen auch:
- Industrielle Revolutionen (Ein kleiner Überblick)
- Die Reisen des Herren Tocqueville
- Herr Turner und die Temeraire