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Sind Zeitreisen möglich? (Essay)#

Hermann Maurer

Als Leser und Schreiber von utopischen Romane (siehe z.B. XPERTEN Saga) und als jemand, der in Mathematik mit Nebenfach Physik (vor langer Zeit) promovierte, habe ich zur Not gewisse Voraussetzungen um auch über Zeitreisen aus einer etwas anderen Sicht zu schreiben.

Eine "echte" Zeitreise mit einer Zeitmaschine - wie sie seit dem Roman "The time machine" von H. G. Wells in Zukunftsromanen immer wieder auftritt - besteht im klassischen Fall aus dem Transport einer Person in die Zukunft oder Vergangenheit, beinhaltet dann gewisse Handlungen der Person in dieser anderen Zeit und die anschließende Rückkehr in die Gegenwart.

Eine solche "echte" Zeitreise verträgt sich mit unserem normalen Verständnis des Begriffs Zeit mit einem "linearen nicht verzweigenden Zeitstrom" nicht; es sind sofort Paradoxa, also Widersprüche, konstruierbar: bei einer Reise in die Vergangenheit (so geht das übliche Argument), bei der man seine Mutter vor der eigenen Geburt töten könnte, tritt ein solcher eklatanter Widerspruch auf; das selbe klassische Argument ist auch auf Reisen in die Zukunft anwendbar, wie folgendes weniger blutige Beispiel zeigt: man reist nur einen Tag in die Zukunft, überzeugt sich, dass ein Gebäude noch unbeschädigt steht, und sprengt dieses nach Rückkehr in die Gegenwart vollständig.

In Zukunftsromanen setzt man sich über solche "kleine Probleme" durch verschiedene Tricks hinweg: von mehreren Zeitreisen und Zeitreisenden, deren Wirkungen sich aufheben, über Paralleluniversa, bis hin zu verschiedenen Lebensebenen, die man durch Zeitreisen wechselt, gibt es unzählige - oft recht geniale - Pseudoerklärungen.

Ein besonders anschauliches Beispiel, das an das Bild der Zeit als Fluss anknüpft, ist jenes, wo der Fluss (die Zeit) nicht als ein zusammenhängendes Gerinne gesehen wird, sondern als etwas, das sich teilen und wieder zusammenführen kann (wie bei einer Insel in einem Fluss), das sich ganz teilen kann (wie in einem Flussdelta bei der Mündung ins Meer), oder das aus geteilten Ästen zusammenwächst (etwa wenn ein Fluss in einen anderen mündet).

Versteht man nun "Zeitreisen" als Reisen entlang dieses "Zeitflusses", dann können Paradoxa durch die Verzweigungen im Fluss "wegerklärt" werden, weil man sich vielleicht bei der Rückkehr zwar gleich weit flussaufwärts oder -abwärts bewegt, aber dennoch an einer anderen Stelle (d.h. bei einer anderen Situation) ankommt.

Zusammenfassend sind jedenfalls echte Zeitreisen, wie vorher beschrieben, nur dann möglich, wenn unser Verständnis des Begriffs Zeit völlig falsch ist. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Solche Zeitreisen sind also wohl unmöglich, nicht etwa weil wir nur heute die entsprechenden Zeitmaschinen noch nicht erfunden haben, sondern weil es solche Zeitmaschinen mit unserem gegenwärtigen Zeitverständnis nicht geben kann.

Ohne die Grundfesten unseres Zeitbegriffs zu gefährden, sind andere Arten von Zeitreisen allerdings denkbar, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. In die Zukunft sind sie einfacher und werden eines Tages vielleicht auch realisiert werden. In die Vergangenheit scheinen auch "unechte" Zeitreisen recht schwer vorstellbar, aber nicht ganz unmöglich.

Eine "unechte" Zeitreise in die Zukunft besteht darin, in die Zukunft zu reisen (wobei man in dieser Zukunft voll handlungsfähig ist), allerdings ohne Möglichkeit, sich selbst oder irgendwelche Signale in die Vergangenheit zurückzuschicken.

In einem gewissen Sinn ist diese Art von Zeitreise nichts Besonderes: schließlich reisen wir alle zur Zeit in die Zukunft, nämlich Richtung Jahr 2015, und viele, die das lesen, werden dort hoffentlich gesund ankommen. Interessant wird diese Art der Zeitreise erst, wenn es möglich ist, schneller zu reisen als man altert. Anders formuliert: ist es z. B. denkbar, 140 Jahre in die Zukunft zu reisen und dabei nur zwei Jahre zu altern? Aus heutiger Sicht gibt es zwei Methoden, die ein vorsichtiges "Ja" auf diese Frage zulassen.

Die eine beruht auf dem "Einfrieren" von Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt wieder "aufgetaut" werden. Ob man die Menschen tatsächlich einfriert, oder ihren Metabolismus nur sehr stark verlangsamt, ist dabei fast nebensächlich: es ist jedenfalls ganz vernünftig anzunehmen, dass es irgendwann gelingen wird, Menschen derart in einen Tiefkühlschlaf zu versetzen, dass sie Jahrzehnte, ja vielleicht Jahrhunderte überleben können und dann, ohne wesentlich gealtert zu sein, wieder voll aktiv werden können.

Vielleicht wird es auf diesem Weg auch einmal möglich sein, die riesigen Entfernungen von unserem Sonnensystem zu anderen zu überbrücken ... wenn solche Raum- und Zeitfahrer dann nach Hunderten Jahren zur Erde zurückkehren, kann sich diese allerdings dramatisch geändert haben (wie etwa in den Filmen um den "Planet der Affen").

Die zweite Möglichkeit, unecht in die Zukunft zu reisen, beruht auf dem berühmten Dilationsprinzip der speziellen Relativitätstheorie, das oft so ausgedrückt wird: "Bewegte Uhren gehen langsamer". Anders formuliert, bewegt sich ein Raumschiff sehr schnell (nahe der Lichtgeschwindigkeit), dann tritt der Effekt auf, dass für jedes Jahr, das im Raumschiff verfließt (und um das die Insassen altern), auf der Erde mehr als ein Jahr vergeht: bei 50% Lichtgeschwindigkeit ist der Unterschied erst 2 Monate pro Jahr, bei 99% aber 6 Jahre und bei 99,99% schon über 70 Jahre.

Lässt man also ein Raumschiff mit 99,99% Lichtgeschwindigkeit (von der Erde aus gesehen) 70 Jahre weg- und dann 70 Jahre zurückfliegen ... so sind auf der Erde 140 Jahre vergangen, die Raumfahrer wurden aber nur um 2 Jahre älter. "Nur" zu lösen sind also die Probleme, wie man ein Raumschiff auf eine so hohe Geschwindigkeit bringen kann, wobei übrigens der Beschleunigungsvorgang auf 6 - 10 Monate gestreckt werden müsste, um die Raumfahrer durch den Andruck nicht zu zerquetschen.

Tatsächlich gibt es aber ernstzunehmende Vorschläge, wie zumindest 50 - 80% der Lichtgeschwindigkeit erreicht werden könnten. Eine "Flucht in die Zukunft" könnte also einmal Realität werden. (Und ein bisschen dazu können Sie ab Band 10 der XPERTEN Reihe, d.h. ab "Im Banne des Wissens" nachlesen)

Eine Reise in die Vergangenheit ist prinzipiell denkbar (d.h. löst keine Paradoxa aus), wenn der Zeitreisende in der Vergangenheit nur beobachten, aber in keiner Weise in die Geschehnisse eingreifen kann. Im einfachsten Sinn ist jeder Archäologe ein solcher Beobachter; ein Dokumentarfilm aus dem Jahre 1930 ist eine "unechte" Zeitreise in die Vergangenheit.

Die Frage ist also nur, wie weit es denkbar ist, dass durch zukünftige Entwicklungen die Beobachtung zurückliegender Ereignisse "noch besser" möglich wird. Da die heutige Gegenwart in Zukunft Vergangenheit sein wird, ist eine gewisse Reise in die Vergangenheit über Dokumentarfilme sicher möglich, wie sie es ja schon heute ist.

Anderer "realistische" Vorschläge wie für die unechten Reisen in die Zukunft (s.o.) sind mir für die Vergangenheit nicht bekannt. Zwei denkbare, aber ausgefallene Methoden mit sehr geringen Realisierungschancen werde ich dennoch kurz behandeln.

Nehmen wir an, ein Teleskop kann außerhalb der Atmosphäre (z.B. am Mond) gebaut werden und ist so stark, dass man über Lichtjahre hinweg Details auf Planentenoberflächen erkennen kann. Wäre nun ein Planet z. B. 5 Lichtjahre vom Mond entfernt (etwa ein Planet im Sonnensystem Proxima Centauri), dann würde man die Oberfläche dieses Planeten vor 5 Jahren sehen. Gelänge es gar, diesen Planeten als "Spiegel" zu verwenden (indem man Streuungen durch entsprechende Computerprogramme berücksichtigt), so könnte man die Erde in diesem Spiegel vor 2 x 5, also 10 Jahren beobachten.

Statt weit entfernte Planeten als Spiegel zu verwenden, könnte man die Biegung von Lichtstrahlen um schwarze Löcher herum benutzen, um das Sonnensystem vor vielen Jahrhunderttausenden zu beobachten ... immer vorausgesetzt, Superteleskope sind konstruierbar, die es gestatten, ein schwächliches Sonnensystem wie das unsere über Hunderttausende von Lichtjahren zu beobachten. Solche Teleskope müssten aus Informationsdichteüberlegungen gigantische Größe haben! Man bewegt sich hier also zwar nicht im Bereich des prinzipiell Unmöglichen, aber man ist soweit von vorhersehbaren oder auch nur spekulierbaren Entwicklungen entfernt, dass im Bild der Wissenschaft als Aprilscherz 1988 die Verwendung von Gravitationslinsen für solche kosmischen Teleskope vorgeschlagen wurden ...

Ein anderes Prinzip einer unechten Reise in die Vergangenheit sei an Hand eines Beispiels aus der Archäologie erklärt: durch die von Sonnenstrahlen ausgelöste Bleichung kann man manchmal bei gestürzten, oft tausende Jahre alten Säulen feststellen, in welcher Position sie einmal standen. Die Säule hat also, wie ein schlechtes Photo, wie ein schlechter Film, ein bisschen Vergangenheit gespeichert.

Vielleicht erlauben es zukünftige, hochcomputergestützte Verfahren immer mehr Vergangenheitsinformation aus alten Wänden, Säulen, Steinen, "die schon viel gesehen haben", abzuleiten. H.G. Wells erklärt in seinem Buch "Der unsichtbare Mann" das Prinzip, wie man einen Menschen unsichtbar machen kann, an Hand einer Analogie: Ein Blatt Papier ist undurchsichtig. Je schlechteres Öl man auf das Papier gibt, umso durchsichtiger und folglich unsichtbarer wird es.

"Genau so" kann man auch bei anderen Gegenständen oder bei einem Menschen vorgehen. Ähnlich kühn ist die Idee, aus einem Stück Säule rekonstruieren zu wollen, was vor der Säule alles abgelaufen ist, obwohl gewisse Ereignisse vor der Säule durchaus Tausende der oberen Molekülschichten verändert haben werden und gewisse Aussagen daraus rückrechenbar sein müssten: das Unsicherheitsprinzip der Physik definiert aber gewisse, nicht überschreitbare Grenzen.

Insgesamt erscheinen unechte Zeitreisen in die Zukunft realistischer als in die Vergangenheit; Aussagen über Detailereignisse in der Vergangenheit werden mehr über moderne archäologische Methoden als über die beschriebenen Varianten erzielt werden; dass aber Beobachtungen von Entwicklungen in der Vergangenheit im Großen (etwa der Entstehung der Milchstraße oder eines Sonnensystems) auch erfolgen werden, ist nicht nur denkbar, sondern wird ja bei der Beobachtung weit entfernter astronomischer Phänomene schon immer gemacht.

Schließlich sollten wir eines nicht vergessen: durch die große Anzahl von Dokumentarfilmen wird eine unechte Zeitreise in die Vergangenheit für zukünftige Generationen zunehmend möglich werden!


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