Unterm Feuer von Strahlenkanonen#
Sowohl am Boden als auch in der Luft ist man nicht ungefährlichen Partikeln ausgesetzt - vor allem bei Langstreckenflügen.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 6./7. Dezember 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Christian Pinter
Am 17. Dezember1964 schloss der 81-jährige Victor Hess zum letzten Mal die Augen - in Mount Vernon, New York. Der gebürtige Steirer war 1938 nach Verfolgung durch die Nazis in die USA emigriert. Zwei Jahre davor hatte er den Physiknobelpreis erhalten: Und zwar für die Entdeckung der kosmischen Strahlung, die ihm bereits 1912 bei Ballonfahrten glückte. Ihre Stärke nahm zu, je höher Hess aufstieg.
Es sind gleich mehrere "Strahlenkanonen", die uns unter Beschuss nehmen. Im Raum zwischen den Sternen ionisieren Hitze und UV-Licht die Atome. So bleiben positiv geladene Ionen und negative Elektronen zurück. Das elektrisch leitende Plasma kann magnetische Felder generieren, die als unvorstellbar kräftige, natürliche Teilchenbeschleuniger fungieren. Das geschieht etwa in jungen Sternhaufen, besonders aber in den expandierenden Schockfronten detonierter Riesensterne. Im Zentrum einer solchen Supernova-Explosion bleibt außerdem eine ultradichte "Sternleiche" von Stadtgröße zurück. Sie besteht praktisch nur aus Neutronen und rotiert in jeder Sekunde dutzende Male um ihre Achse. Auch in der Nähe solcher Neutronensterne treten brutalste Magnetfelder auf: Was ihnen in die Fänge geht, wird auf ein wahnwitziges Tempo getrieben.
Im Cocktail der davonstiebenden Partikel dominieren Wasserstoff- und Heliumkerne. Hinzu kommt ein Prozent schwererer Atomkerne, bis hinauf zum Uran. Sogar Antimaterie steckt darin. Geladene Teilchen wollen Magnetfeldlinien folgen. Auf ihrem rasanten Flug werden sie daher von den Magnetfeldern innerhalb unserer Milchstraße mehrmals außer Kurs gebracht. Bei uns treffen die Partikel der galaktischen kosmischen Strahlung daher aus allen Richtungen ein. Ihre Energien übertreffen jene des Large Hadron Collider am CERN jeweils um das Hundert- bis Hunderttausendfache. Teilchenstrom zur Erde
Die Sonne hüllt das Planetensystem ebenfalls mit einem Magnetfeld ein und hält uns damit schwache Partikeln vom Leib. In einer aktiven, fleckenreichen Phase gelingt ihr das um 40 Prozent besser als in einer ruhigen. Allerdings wird die Sonne gerade in aktiven Zeiten selbst immer wieder von magnetischen Störungen geplagt: Sie speit dann plötzlich Protonen und Elektronen zu Hauf ins All. Zielt dieser Teilchenstrom Richtung Erde, macht er den Rückgang der galaktischen kosmischen Strahlung mehr als wett - zumindest für ein paar Stunden.
Auch unsere Erde besitzt ein Magnetfeld. Es richtet nicht nur Kompassnadeln aus: Draußen im All leitet es einen Teil der Strahlungspartikeln zu den beiden Magnetpolen ab. Die energiereicheren Teilchen zeigen sich davon unbeeindruckt. Zu ihnen zählen auch jene der extragalaktischen kosmischen Strahlung. Sie entstammt dem Zentrum fremder Galaxien, in deren Schoß ein massereiches Schwarzes Loch sitzt. Üppig mit Materie gefüttert, treten im Umkreis solcher "Schwerkraftfallen" Magnetfelder von Rekordstärke auf. Sie beschleunigen Teilchen auf bis zu 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.
Entsprechend flink durcheilt so ein Partikel die Abgründe zwischen den Milchstraßen, reist über 100 Mio. Lichtjahre weit. Im Extremfall besitzt es am Ende seines Fluges noch so viel Energie wie ein Baseball bei 100 km/h - und das trotz atomarer Winzigkeit!
Sekunde um Sekunde prasseln grob tausend geladene Teilchen auf jeden Quadratmeter der irdischen Lufthülle: Nahe der Magnetpole sind es mehr als über dem Äquator. Diese Primärteilchen werden in der Luft fast völlig absorbiert. Dabei spalten sie ab etwa 20 km Höhe atmosphärische Atome auf. Die neuen Partikel führen sich leider ähnlich auf wie ihre Erzeuger: Ein lawinenartiger Prozess kommt ins Rollen. Während dieses Luftschauers kann ein einziges Primärteilchen die Bildung von Abermillionen Sekundärteilchen auslösen.
Während die Atmosphäre immer dichter wird, verliert sich das Gros der Strahlung. Auf Seehöhe wird man während eines Herzschlags nur noch von einem Dutzend Sekundärpartikeln getroffen. Die kosmische Strahlung bildet hier somit einen Teil der natürlichen Radioaktivität, die sonst vor allem aus dem Erdboden stammt. Unter unseren Füßen lagern nämlich unbequeme Substanzen; speziell Isotope von Thorium, Uran und Kalium. Auf Umwegen zerfällt Uran-238 in Radium-226 und Radon-222.
Dieses Gas, ein Alpha-Strahler, entweicht dem Boden. Es reichert sich in schlecht gelüfteten Räumen an und gilt nach dem Rauchen als zweithäufigste Ursache von Lungenkrebs. Außerdem stecken noch andere natürliche Radionuklide im menschlichen Körper, in Nahrungsmitteln oder in Baustoffen. Die 111 Stationen des österreichischen Strahlenfrühwarnsystems messen meist natürlich bedingte Dosen zwischen 0,070 und 0,2 Mikrosievert pro Stunde. Wiener leben mit etwa 0,08 Mikrosievert; ein Drittel bis die Hälfte davon soll kosmischen Ursprungs sein.
"Brustkorb-Röntgen"#
Über den Wolken entkommt man wenigstens der Bodenstrahlung - doch ihrem Pendant aus dem Kosmos ist man dafür umso heftiger ausgesetzt. Ein Eigenversuch macht dies deutlich: Während des Flugs von Athen nach Wien registriert schon ein recht billiges Messgerät bis zu 20 Mal mehr Strahlungstreffer als auf dem Rollfeld. Tatsächlich ist die Belastung noch höher. Die britische Civil Aviation Authority (CAA) gibt bereits für 8000 Meter Höhe eine Dosis von 3 Mikrosievert pro Stunde an. Das Deutsche Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (GSF) rechnet für die Tour von Frankfurt nach Rom mit insgesamt bis zu 6, für die Destination Singapur mit bis zu 50 und für den Flug nach San Francisco mit bis zu 110 Mikrosievert.
In den USA zieht man gern das "chest x ray" (Brustkorb-Röntgen) als Vergleich heran. Rein rechnerisch würde man demnach in den Straßen Wiens alle siebeneinhalb Wochen von der natürlichen Strahlung "geröntgt", am 3105 m hohen Sonnblick alle drei Wochen. Flöge man von Chicago entlang der Polroute nach Peking, bekäme man die äquivalente Dosis laut NASA gleich zweimal ab; 100.000 Flugmeilen entsprächen 20 Thorax-Röntgen.
Entscheidend ist neben der Flugdauer auch die Flughöhe: Auf innereuropäischen Routen steigt der Düsenjet nicht so hoch wie bei Interkontinentalreisen. Allein zwischen 10.670 und der für Langstreckenflüge üblichen Höhe von 11.900 Metern wächst die Belastung um ein weiteres Viertel. Über den Magnetpolen ist die kosmische Strahlung außerdem drei- bis fünfmal so stark wie in Äquatornähe. Polrouten sind der kürzeren Strecke wegen beliebt. Das spart Airlines Treibstoffkosten von einigen zehntausend Dollar pro Flug. Nach einer extremen Sonneneruption, die uns glücklicherweise nur selten trifft, könnte sich die Dosis verhundertfachen. Dann sollte man wenigstens die Pole meiden und bescheidenere Flughöhen vorziehen.
Auf dem Weg in den Urlaub sind Flugpassagiere der kosmischen Strahlung vergleichsweise kurz ausgesetzt. Für Flugbedienstete gehört sie hingegen zum Alltag. Nicht umsonst vergleicht die NASA deren Strahlenbelastung mit jener von AKW-Mitarbeitern. Der Großteil der Crew-Mitglieder soll pro Jahr weniger als 3000 Mikrosievert abbekommen. Ab 6000 ist eine fachärztliche Untersuchung vorgeschrieben.
Ionisierende Strahlung schädigt die DNA. Nicht immer greifen die körpereigenen Reparaturmechanismen. Die Wahrscheinlichkeit und die Schwere einer resultierenden Krankheit werden von der Dosis beeinflusst. Die Gefahr an einem Tumor zu sterben, soll pro 1 Mio. Mikrosievert um 4 Prozent wachsen. Diese simple, weil lineare Beziehung leitete man an Menschen mit besonders hoher Strahlenbelastung ab (wie etwa in Hiroshima). Ob die Regel "Halbe Dosis ist nur halbes Risiko!" auch bei geringer Belastung gilt, weiß niemand mit letzter Sicherheit. Es ist sogar höchst umstritten, ob es überhaupt "unbedenkliche" Strahlendosen gibt. Wie das menschliche Gewebe auf die besonders energiereichen Teilchen im Mix der kosmischen Strahlung reagiert, bleibt ebenfalls unklar.
Hautkrebs bei Piloten#
Bei Piloten existieren Hinweise auf eine deutlich erhöhte Anfälligkeit für Grauen Star. Dafür könnte die kosmische Strahlung verantwortlich sein, aber auch das in großen Höhen intensivere UV-Licht. Nach einer brandneuen Studie tritt schwarzer Hautkrebs bei Piloten und Flugbegleitern mehr als doppelt so häufig auf wie im Schnitt der Bevölkerung; sie sterben auch um 42 Prozent häufiger daran. Wie eine andere Untersuchung zeigte, sind nicht nur Hals und Kopf betroffen, sondern auch bedeckte Körperpartien.
Lässt sich das wirklich allein mit der UV-Exposition während des Flugs erklären? Speziell auf der Langstrecke ist die Crew ständigen Jetlags ausgesetzt, und sie arbeitet auch nachts. Beides stört die Produktion des Schlafhormons Melatonin, was wiederum das Immunsystem schwächt. Bei Krankenschwestern zeigen Studien schon seit Jahren, dass Schichtdienst bestimmte Krebsarten fördert. Im Einzelfall ließe sich also schwer feststellen, ob eine Erkrankung nun tatsächlich aufs Konto der kosmischen Strahlung geht - oder eher von anderen Risiken des Flugdiensts herrührt.
Der jährliche "Grenzwert" für beruflich strahlenexponierte Personen wurde schon vor geraumer Zeit mit 20.000 Mikrosievert festgesetzt. Dazu bedürfte es nach der Federal Aviation Administration (FAA) mehr als 300 Flüge von Athen nach New York. Bei einem 25-jährigen Inlandsdienst auf der Strecke New York-Chicago kämen laut FAA 68.000 Mikrosievert zusammen. Sofern man der zuvor erwähnten Regel folgt, läge das Risiko einer tödlichen Krebserkrankung um 0,27 Prozent höher als bei anderen Erwerbstätigen. Statistisch würde das einen zusätzlichen Krebstoten unter 368 Crew-Mitgliedern bedeuten.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra".