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Die Endzeitfantasien abschütteln #

Unser Blick auf die Welt ist von Angst geprägt. Übersehen werden dabei gute Entwicklungen, meinen Zukunftsforscher in einem neuen Report. #


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 6. Juli 2017).

Von

Tristan Horx und Lena Papasabbas


Wir leben im Zeitalter der Krisen. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise … Wir scheinen von einer Katastrophe in die nächste zu stürzen. Klimawandel, Terror und Rechtspopulismus zeigen, wo es langgeht mit der Menschheit – nämlich steil bergab. Kein Wunder, dass die Globalisierung als solche einen schlechten Ruf hat. Sie wird verbunden mit eben diesen Entwicklungen – ohne globalisierte Finanzmärkte gäbe es keine Finanzkrise, ohne global vernetzte Wirtschaft keine Wirtschaftskrise, ohne Globalisierung keine derart gewaltigen Migrationsströme.

Doch dieser Blick auf die Welt ist von Angst geprägt und vor allem von einer Medienwelt, die es sich zur Gewohnheit gemacht hat, diese Ängste zu nutzen, um möglichst viel Aufmerksamkeit – und damit Klicks – auf sich zu ziehen. Schütteln wir diese Endzeit- Fantasien doch einmal ab – trotz Trump und Terror – und blicken auf den Zustand der Menschheit als Ganzes. Der Human Development Index (HDI) ist ein guter allgemeiner Wohlstandsindikator für Staaten. Er basiert auf statistischen Durchschnittswerten, die Lebenserwartung, den Bildungsgrad und den Lebensstandard (im Sinne von Bruttonationaleinkommen pro Kopf) einer Bevölkerung betreffend. Betrachtet man die Entwicklung des HDI seit 1990, stellt man fest: Es geht stetig nach oben. Wurden 1990 noch 49 Länder als Nationen mit sehr hoher oder hoher menschlicher Entwicklung eingestuft, waren es 2016 ganze 105 Länder. Ebenso hat die Anzahl der Länder mit sehr niedrigem HDI abgenommen. Diese Positiv- Nachrichten gehen im medialen Negativ- Echo verloren. Sie bleiben der breiten Öffentlichkeit verborgen.

Auch abseits des HDI als Kennzahl für den allgemeinen Zustand der Welt offenbaren sich tiefgreifende positive Entwicklungen – sofern wir es wagen, einmal über den täglichen alarmistischen Newsstream hinauszublicken. Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben müssen, verringert sich seit einem Jahrhundert – trotz steigender Bevölkerung. In den vergangenen 16 Jahren hat sich der Anteil der Armen an der Weltbevölkerung von 80 auf 69 Prozent verringert. Auch die enormen Datensätze der Gapminder- Datenbank zeigen: Armut nimmt global gesehen eindeutig ab.

Eine neue Mittelschicht #

Immer mehr Menschen auf der Welt rutschen von prekären Verhältnissen in die Mittelschicht. Das verändert die Ziele, Wünsche und Perspektiven derjenigen Menschen, die in Familien ohne Existenzängste hineingeboren werden. Allein 900 Millionen Chinesen werden bis zum Jahr 2020 der globalen Mittelschicht angehören. Ähnlich positive Tendenzen zeigen sich in allen möglichen Bereichen: Immer weniger Menschen auf der Welt müssen hungern, Großstädte werden sicherer, die Anzahl der Gewalttaten sinkt, Bildung und insbesondere Alphabetisierung steigen in rasendem Tempo an, die Bereitschaft von Menschen, für ihre Nation in den Krieg zu ziehen ist niedriger als je zuvor … Der Big-Data-Pionier und Gründer der Datenbank Gapminder Hans Rosling pflegte zu sagen: „Wenn Sie sich eine Frage zur Entwicklung der Welt stellen, ist die Antwort immer: Es wird besser. Langsam, aber besser.“ Sicher, die wirtschaftliche Dominanz des Westens und seiner Großkonzerne lässt sich nicht leugnen. Auch nicht der Fakt, dass mit wirtschaftlicher Expansion auch kulturelle Werte, Bilder und Konsumgüter in andere Gesellschaften diffundieren.

Die Macht des Westens nimmt ab #

Zum einen jedoch nimmt die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA und Europas seit Jahren ab: 1980 wurde die Weltwirtschaft noch zu 22 Prozent von den USA bestimmt, 2020 werden es noch 15 Prozent sein. Die G-7-Staaten machten 1980 noch 51 Prozent der Weltwirtschaft aus, 2020 sind es voraussichtlich noch 29 Prozent. Deutschland hat im selben Zeitraum einen Rückgang von sieben auf drei Prozent zu verzeichnen. Gleichzeitig streben nicht-westliche Länder wie China und Indien zu neuen Wirtschaftsmächten auf. (IMF) Globalisierung ist natürlich nicht nur ein ökonomischer, sondern vor allem auch ein sozialer Prozess.

Und dieser geht nie nur in eine Richtung. Das Paradox der Globalisierung ist, dass sie gleichzeitig standardisiert und diversifiziert, zu mehr Einheitsbrei führt und zu mehr Komplexität, die sich in alle möglichen Richtungen spezialisiert. Einerseits trinken alle möglichen Leute überall auf dem Globus Pepsi und gucken Filme aus Hollywood, andererseits werden – vom Buddhismus über Zumba bis zu Holi-Festivals – ständig Elemente aus nicht-westlichen Kulturen in westlichen Gesellschaften integriert. Nebenbei entstehen hoch spezialisierte Interessengemeinschaften, bei denen der geografische Ursprung fast völlig irrelevant wird, wie die Cosplay-Szene, die in sich ziemlich homogen ist, im Kontext der jeweiligen Lokalkultur jedoch ein unheimlicher Exot. Es sind diese Synthesen, die unsere globale Zukunft auszeichnen. Gemeinschaften in Dörfern und Städten waren früher sehr stark kollektivistisch geprägt, Kirche und Staat prägten die Werte und Lebensweise der überwältigenden Mehrheitsgesellschaft. Heute leben wir in Städten, die bevölkert sind von Individuen, die in ihrer Lebensweise kaum heterogener sein könnten. Gleichzeitig ähneln sich die Global Cities untereinander teilweise mehr als die Großstadt der benachbarten Kleinstadt im eigenen Land.

Selbst McDonald’s, das Sinnbild für Amerikanisierung, führt nicht allein zu Standardisierung von Arbeitsplätzen und gastronomischen Angebotsformaten. Eine sozialwissenschaftliche Studie zeigt überraschende Effekte der „Mc D o n a l d i-sierung“: Nicht nur nimmt die Kette in jedem Land eine andere soziokulturelle Bedeutung ein – in Russland als schickes Restaurant, in Deutschland als Ort, wo Jugendliche sich ihre Zeit vertreiben, in Amerika als klassisches Fast-Food-Restaurant ... Auch die Produkte unterscheiden sich stark, je nach kulturellem und religiösem Umfeld der Filialen. Und: Die Verbreitung von McDonald’s war nicht nur in Europa mitverantwortlich für die Entstehung der Slow-Food-Bewegung mit all ihren Folgen, sie hat auch in vielen asiatischen Städten zu einer regelrechten Revitalisierung der lokalen Snack- und Street- Food-Kultur geführt. Das Beispiel zeigt: Globalisierung ist nicht eindirektional. Wir müssen Globalisierung weniger als Einfluss einer dominanten Kultur auf eine andere sehen als vielmehr in komplexen Wechselwirkungen denken, in denen ständig neue hybride Formen entstehen.

Lokale und globale Synthesen #

Dasselbe Prinzip überträgt sich immer weiter auf die Politik. Starre, nationalstaatliche Konzepte können die Komplexität der globalen Interaktionen schon längst nicht mehr bewältigen. Auch hier entstehen aufgrund der Wechselwirkungen zwischen Lokalem und Globalem Synthesen. Lokale Bürgermeister schließen sich in großen globalen Netzwerken zusammen, um pragmatisch agieren und voneinander lernen zu können. Die Bürger suchen neue Politiker, die ihren immer komplexeren Ansichten und Wählerprofilen gerecht werden können – und auf dieser Suche sind auch wir.

Globalisierung bedeutet Wechselwirkung, Vernetzung, Diversifizierung. Und gleichzeitig Homogenisierung und Standardisierung. Vor allem erweitert sie den Möglichkeitsraum um eine neue Dimension einer bis dato einmaligen Optionenvielfalt. Diese Prozesse sind unaufhaltsam und nicht rückgängig zu machen. Selbst Globalisierungsgegner organisieren sich in eben den globalisierten Strukturen, gegen die sie ankämpfen. Selbst der Terrorismus funktioniert aufgrund globalisierter Medienberichterstattung und wäre ohne diese wirkungslos. In dieser Welt der Paradoxe und dynamischen Verbindungen wächst gerade eine Generation von jungen, gebildeten Menschen heran, die sich durch eine neue Haltung auszeichnet: die Generation Global. Wir wollen diese Menschen und ihre Werte sichtbar machen, unsere Werte. Für einen achtsamen und globalen Zukunftsoptimismus.

Die Autoren sind Trend- und Zukunftsforscher am Zukunftsinstitut mit Sitz in Wien und Frankfurt

DIE FURCHE, Donnerstag, 22. Juni 2017

Weiterführendes#


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