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Kindertage in der Krim#

Eine leicht nostalgisch gefärbte Erinnerung an die einstige Wiener Arbeiterhochburg, den Sitz der provisorischen "Döblinger" Regierung 1945 und an ein postindustrielles Rest-Idyll.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 3./4. September 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Gerhard Strejcek


Die Krim zum Beginn des 20. Jahrhunderts
Die Krim zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Im Vordergrund die Krottenbachstraße, hinten die Kirche am Kaasgraben.
Foto: Wikimedia

Die Krim zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Im Vordergrund die Krottenbachstraße, hinten die Kirche am Kaasgraben. Foto: Wikimedia

Meine engere Heimat war die Krim. Nicht etwa die ukrainisch-russische Schwarzmeer-Halbinsel, sondern jener Ortsteil des neunzehnten Wiener Gemeinde-Bezirks, der zwischen Sieve-ringer Straße, der Vorortelinie und Glanzing liegt und dessen Name vermutlich auf den Gastwirt Johann Grimmer (!) in der Krottenbachstraße zurückgeht. Einst ein mehr als bescheidenes Vororte-Pflaster, dann eine Arbeiter-Hochburg, schießen heute in "Döblinger Bestlage" fünfstöckige, oft grotesk schmal anmutende Bauten aus den Gruben, welche die niedergerissenen Fuhrwerkshäuser hinterlassen haben.

In den Sechzigerjahren indes lebten dort in kleinen, meist nur ein- oder zweistöckigen Häusern Arbeiter, Angestellte, Gewerbetreibende und Handwerker. Die meisten davon sind heute verschwunden, ebenso wie die Fabriken mit den stolzen Namen Danubia (Strom-Zähler), Graef & Stift (KFZ), Schauer (Uhren) oder Bensdorp (Kakao). Der Charakter dieses Industrie-, Garten- und Gewerbeviertels hat sich dramatisch verändert - nicht wirklich zum Besseren. Denn die überteuerten Wohnghettos produzieren vor allem Verkehr. Jeden Morgen wälzen sich PKW-Kolonnen Richtung Innenstadt, jeden Abend kommen sie zurück.

Neben Thomas Bernhard#

Anfang der Sechzigerjahre herrschte noch ein postindustriell angehauchtes Idyll mit Fabriken, zahlreichen wilden Gärten und wenig Verkehr. Wir wohnten in der Obkirchergasse, nur zwei Häuser neben dem Wiener Wohnsitz von Thomas Bernhard. Als ich zur Welt kam, schrieb er dort gerade in der Wohnung seines "Lebensmenschen", Hedwig Stavianicek, die Endfassung von "Frost" in einem heißen Sommer. Wahrscheinlich bin ich ihm öfters begegnet. Er kaufte sich von einem Preisgeld den gleichen Wagentyp wie mein Vater, einen Triumph "Herald". Seiner war rot-weiß, unserer gelb-weiß lackiert. Die kleinen englischen Benzin-Brüder lebten nicht lange. Bernhard vernichtete sein Fahrzeug in Kroa-tien, mein Vater verlor seines an einen Betrunkenen, der vom Heurigen heimfuhr und den "Triumph" gegen einen Baum drückte. Für uns Kinder erwies sich das als Vorteil, weil der 1965 erworbene "Fiat 1500" ungleich mehr Platz auf der braunen Skai-Rückbank bot.

Als Kind glaubte ich, dass unsere Gasse nach der Krim-Kirche Judas Thaddäus benannt sei und wunderte mich darüber, da unsere Wohnung unterhalb und nicht "ob" der Kirche lag. Hingegen war die in der Hofzeile gelegene Sankt Paul-Kirche viel zu weit weg, um den Ortsnamen zu rechtfertigen. Eines Tages fand ich heraus, dass "Obkircher" der Eigenname eines Pfarrers war, dem die vom Sonnbergplatz und dem Karl-Mark-Hof unterbrochene Gasse ihren Namen verdankt.

Karl Mark (1900-1991), der noch persönlich im Döblinger Gymnasium, seiner und meiner ehemaligen Schule, als Zeitzeuge auftrat, war von 1921 bis 1934 Bezirkssekretär der Sozialdemokraten und wurde im April 1945 von den Besatzern kurzerhand zum "Bürgermeister von Döbling" ernannt. Die Rote Armee hatte bereits am 9. 4. 1945 den Vororte-Bezirk erobert. Die provisorische Bezirksvorstehung amtierte bis zum Oktober 1945 in der Realschule (heute Bundesrealgymnasisum) in der Krottenbachstraße, unterstützt vom Krim-Pfarrer und KZ-Opfer Zeininger, zwei Liberalen und ehemaligen Schutzbündlern. Der russische Kommandant saß in der Arbesbachgasse, wo auf meinem Schulweg noch lange Zeit die KPÖ ihren Sitz hatte. Döbling fiel dann aber in die US-amerikanische Besatzungszone und die stalintreuen Kommunisten wurden zu Exoten. Damals war die Obkirchergasse eine Kastanien-Allee, noch keine Einbahn und der Verkehr zwischen Krottenbach- und Sieveringerstraße war noch erträglich. Im Zeitraum vom 9. Oktober 1946 bis zum 2. Dezember 1958 verkehrte die Oberleitungs-Buslinie 22, teils mit Anhänger zwischen der Stadtbahnstation Nußdorferstraße und Salmannsdorf auf der meist menschenleeren und ländlich wirkenden Straße.

Fotos der Fünfzigerjahre zeigen viel Grün, ein paar Villen, Fuhrwerks- und Gasthäuser, aber kaum Wohnbauten entlang dem Krottenbach.

Ja, die Bäche. Die drei aus dem Wienerwald mehr oder minder parallel bergab fließenden Gewässer, der Krotten-, der Erbsen- und der Sieveringer Bach, verursachten regelmäßige Überflutungen. Durch Auffangbecken und Regulierungen wurde die größte Gefahr gebannt, aber nach wie vor stehen Keller und tief gelegene Geschoße in Oberdöbling unter Wasser, wenn es heftig regnet. Aber die Gegend hat auch ihre Vorteile. Das, was man heute gern "Infrastruktur" nennt, war schon aus Sicht des Kindes optimal. Eine Schaumtütenfabrik im Souterrain unweit der Schule, ein "Zuckerlgeschäft" ein paar Häuser von der Wohnung, daneben die Papierhandlung der Maria Rauscher mit den ungeahnten Schätzen in ihrem winzigen Kontor. Einzelhandel im wahrsten Sinn des Wortes: ein Radiergummi, ein Bogen Spinnwebpapier zum Einbinden eines Schulhefts und eine Faschingsmaske aus Papier. Frau Rauscher, die sich nicht zu gut war, wegen dieser Minimalumsätze schwindelnde Regal-Höhen zu erklimmen, liegt längst am Döblinger Friedhof begraben.

Unruhige Zeiten#

Abgesehen von ihrer wirtschaftshistorischen Bedeutung - immerhin galt der Graef & Stift-Wagen als österreichischer Rolls Royce, den auch der Erzherzog-Thronfolger auf seiner unseligen Sarajewo-Rundfahrt im Sommer 1914 verwendete -, war die Krim schon ein Unruhe-Pflaster in der Ersten Republik. In der NS-Zeit entwickelte sich sowohl in der KFZ-Fabrik in der Hutweidengasse als auch in der Armaturenfabrik Hübner & Mayer in der Unterdöblinger Muthgasse namhafter Widerstand gegen die Machthaber. Auch der Klosterneuburger Roman Scholz, den die Nazis ermordeten, war in Döblig aktiv, wo er auch in der Heiligenstädter Kirche predigte.

Ein erster Höhepunkt der Unruhen war der Sommer 1927 anlässlich der Schattendorfer Prozesse und dem darauf folgenden Justizpalastbrand. Die Cottage-Bewohner gerieten in helle Aufregung angesichts des Verstummens der bürgerlichen Blätter (Drucker-Streik), und da keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, musste etwa der in der Sternwartestraße wohnende Arthur Schnitzler einen gewaltigen Umweg zu Fuß in Kauf nehmen.

Er kam gerade vom Cobenzl, nachdem er von den Ausschreitungen und dem mehr als unglücklichen Einschreiten der Polizei am Schmerlingplatz erfuhren hatte. Aus Sorge vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Krim marschierte er daher kurz entschlossen via Hohe Warte heimwärts in die Sternwartestraße. Das war ein stattlicher Umweg.

Der tragische Februar#

Noch dramatischer waren die Ereignisse des Februar 1934, als das Bundesheer von Stellungen nahe der Hohen Warte mit Artilleriegeschützen den Widerstand im Karl-Marx-Hof brechen wollte und dabei einige riesige Löcher in den Trutz- und Sozialbau und zugleich in das Vertrauen auf seine Unparteilichkeit im Rechtsstaat riss. Es gab Todesopfer in der Grinzinger Straße, als Polizei und Heer ein Sektionslokal der Sozialdemokraten stürmten. Zweifellos ereilten die Auswirkungen des bis heute mysteriösen Bürgerkriegs auch die Arbeiter in der Krim. Von Verrat war die Rede und einer bewussten Heimwehrprovokation, von einem "Zund" der zu gezielten Hausdurchsuchungen in Linz geführt hatte. Tatsache war, dass Schutzbund und Arbeiter unterlagen und die Tage der SDAP gezählt waren, wie auch jene der österreichischen Demokratie, die spätestens mit der Mai-Verfassung 1934 von der Bildfläche verschwand. Genau genommen schon früher, als durch die autoritäre Ausschaltung von Parlament und Verfassungsgerichtshof die wichtigsten Kontrollorgane paralysiert wurden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Gräueln der Naziherrschaft waren die Animositäten zum Glück begraben, kein Bürger musste sich nun fürchten, die Arbeiter-Inseln des noblen westlichen Bezirks zu betreten. Und die Belegschaften empfanden Polizei und das neue Bundesheer nicht mehr als willkürlich handelnde Feinde, sondern als demokratisch kontrollierte Organe und Institutionen des Rechtsstaates. Ein unschätzbarer Fortschritt, den man heute wieder zu gering einschätzt, der aber erst die steigende Produktivität und das Wirtschaftswunder der Zweiten Republik ermöglichte.

Von diesem Wunder in Form bester Schokolade, Baby- und Bau-Boom profitierte ich als Volksschüler mehrfach. In der nach Gustav-Peichl-Plänen neu gebauten Pflichtschule in der Flotowgasse, mitten in der Krim, hatte die Moderne Einzug gehalten. Dem Architekten, der immer noch als Karikaturist aktiv ist, soll ein ehrliches Lob des einstigen Schülers der Jahre 1968 bis 1972 gespendet werden. Das Sichtbetongebäude, das wie ein Vierkanthof einstöckig angelegt ist, liegt mitten in der Grünfläche des "Olympia-Parks" und bietet jeder einzelnen Schulklasse noch dazu einen abgetrennten Erholungsraum im Freien, sei es als Klinker-Terrasse oder sogar als eigener Vorgarten, in dem man Laufen, Herumtollen und Jausnen kann. Für Kinder ist das wichtig, und umso erstaunlicher erscheint es, dass es kaum Schulen in der Stadt gibt, die eine derartige Architektur aufweisen.

Von den architektonischen Meriten zurück zu den kulinarischen Reizen des Terrains. Die anhaltende Versuchung dieser Zeit bestand unter anderem in einem fast permanenten Schokoladegeruch, den die Bensdorp-Fabrik in der Hutweidengasse verbreitete. Wann immer der Wind aus Westen wehte, und das war in den 60er und 70er Jahren fast stets der Fall, roch es rund um den Sonnbergplatz und die Obkirchergasse anheimelnd nach Kakao. Was lag also näher, als die gesamte Verwandtschaft zu drangsalieren, um die grünen, roten und blauen Bensdorpschokoladeschleifen zu sammeln? Im Eintausch gegen echte und wohlschmeckende Schokolade handelte es sich dabei um eine wichtige Währung. Nicht nur einmal fuhr ich mit dem Fahrrad dorthin, wo heute nur mehr Wohnbauten und gleichförmige Billa-Filialen stehen, stets bergan in Richtung Hackenberg bis zur Bensdorp-Fabrik, mit einem prall gefüllten Schleifen-Karton im Gepäckträger - und kam dann mit einem etwas spärlicher gefüllten Schokoladekarton beschwingt bergabfahrend zurück.

Schaumtüten-Träume#

Unterhalb der modernen Judas-Taddhäus-Kirche befand sich eine weitere Attraktion, die Schaumtütenfabrik, an der kein Schulkind vorbei konnte, ohne sehnsuchtsvoll in den Kellereinstieg zu schielen. Oft genug beobachtete ich durch eine Luke das sich langsam und mäanderhaft bewegende Keller-Fließband. Wie und wohin genau dieses Fließband verlief, blieb zwar ein ewiges Rätsel, aber Tatsache war, dass die nur minimal beschädigten Schaumtüten oder -becher um nichts weniger gut schmeckten als ihre intakten Kollegen, die einen längeren Weg in den Einzelhandel antreten mussten als der "Bruch", der meist schon in der Flotowgasse oder spätestens in der angrenzenden Leidesdorfgasse verzehrt wurde.

Dass es sich bei Leidesdorf um einen Psychiater und bei Flotow um den Komponisten der Oper "Martha" handelte, war mir als Volksschüler nicht bekannt. Aber ich verband den Namen "Martha" mit den Aral-Tankstellen. Tankstellen interessierten mich und es gab meist Zugaben für Kinder, etwa Abziehbilder, Sammelalben oder PEZ-Bonbons. Neben der Zrunek-Gummifabrik befand sich damals eine "Elan"-Tankstelle. Die hat längst zugesperrt, aber in unmittelbarer Nähe halten sich immer noch eine "Esso"- und eine "OMV"-Tankstelle, die von der Auto-Pflege-Manie ansässiger Bewohner und dem späten Getränke- und dem frühen Gebäckbedarf anderer Bewohner profitieren. Und auf diese Art besteht ja doch ein industrieller Rest von der alten "Krim" weiter.

Gerhard Strejcek

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 3./4. September 2011