Page - 139 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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JĂĽdisches Wien
Berthold Viertels Vater Salomon war – seinem Bruder Leopold nachfolgend –
wahrscheinlich um 1880 nach Wien gekommen.1 Er war damals noch keine
20 Jahre alt und begann seine Karriere in der Spätgründerzeit. Nach dem Bör-
senkrach im Mai 1873 war es zu einem erneuten wirtschaftlichen Aufschwung
gekommen und der Glaube an die Möglichkeit, den sozialen Aufstieg einer
Familie in ein bis zwei Generationen erreichen zu können, war weitgehend un-
gebrochen. Salomon Viertel glaubte daran. Er arbeitete sich nicht nur aus Gali-
zien, sondern auch aus dem Elend Neulerchenfelds, in dem sein Bruder verblieb,
heraus. Salomons Erfolgsgeschichte als Möbelhändler in Wien – der bald Ho-
tels und Sanatorien einrichtete und ab 1894 Inhaber einer protokollierten Firma
war2 – soll ihren Ursprung im Netzwerk und Ansehen der Familie Viertel in
Galizien gehabt haben :
Vielleicht wird man später einmal nicht verstehen, wovon solch ein junger jüdischer
Geschäftsmann im damaligen Wien lebte. Nicht dass er seine Möbel selbst gezim-
mert oder sie mindestens entworfen hätte. Er ging bei den Tischlern herum und
stellte fest, was diese dummen Fachleute produzierten. Dann fand er ihnen Kunden,
brachte die beiden Parteien zusammen und vermittelte das Geschäft. […] Da er am
Anfang weder Geld noch Kenntnisse besaĂź, so muss die ganze Entwicklung auf einem
Vorurteil begründet gewesen sein. […] Sie [die Möbelhändler aus Galizien, die Salo-
mons Vermittlung bedurften] hatten alle seine Ursprünge gekannt, seinen Vater […].
Salomon hatte sich, als er nach Wien einwanderte, die Schläfenlocken beschneiden
lassen und den Kaftan abgelegt – eine im Grunde mittelalterlich deutsche Tracht –
und lief sozusagen in moderner Narrenjacke einher, profan und windig anzusehen.
Trotzdem wurde ihm in galizisch-jüdischen – und auch in entsprechenden Wiener
Kreisen – der moralische Kredit, der ihm als dem hoffnungsvollen Sohne eines ehr-
wĂĽrdigen, wenn auch armen Vaters und einer heftigen, aber achtbaren Mutter nicht
entzogen, sondern freigiebig gewährt. Es war also kein Wunder, wenn auch die be-
jahrten galizischen Kaufleute in den jungen Salomon […] ihr Vertrauen setzten. […]
Als er sich selbstständig machte, blieben sie ihm treu und schufen ihm dadurch die
1 Salomon Viertel an BV, 9. April 1932, o.S., K20, A : Viertel, DLA.
2 Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-AdreĂźbuch fĂĽr die k.k.
Reichshaupt und Residenzstadt Wien und Umgebung 1894 : http://www.digital.wienbibliothek.at/
periodical/titleinfo/5311 (zuletzt : 22.11.2016).
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359