Page - 161 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Deutsche Kultur
Man ward mit keinem PaĂź geboren. / Die Sprache lernte man als Kind. / Am
Ende ging der Sinn verloren / Der Worte, die gebräuchlich sind«1. Die deutsche
Sprache und die ihr zugehörigen Kulturen bestimmten Berthold Viertels Leben
als Dichter : »Wenn du statt an die Macht / Dich in die Sprache drängst […]«2.
Die deutsche Sprache war im Habsburgerreich die Sprache der Macht und
der Eliten. Schon Kaiser Joseph II. war bemĂĽht gewesen, sie als Amts- und
Staatssprache fĂĽr das gesamte Reich zu etablieren3 und seither war sie jedenfalls
das Bildungsidiom und Medium der Hochkultur. Speziell das plurikulturelle
Wien, mit seinen vielen unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen,
verstand sich als »deutsche Stadt« und schrieb die Verpflichtung, den »deut-
schen Charakter« der Stadt aufrechtzuerhalten, sogar in seinen Bürgereid ein.
Die Wiener Umgangssprache oder österreichische Mundart, die Berthold Vier-
tel durch Dienstmädchen vermittelt wurde, zeigte sich zwar integrativ, indem sie
»Fremdelemente« aus verschiedensten Sprachen aufnahm, trotzdem herrschte
Anpassungsdruck : »Wer was werden hat wollen, hat müssen Deutsch reden.«4
In sich »assimilierenden« jüdischen Familien wurden dieser Logik folgend
Bildung und die durch sie vermittelte deutsche Kultur oft zu einer Art Glau-
bensersatz – der Kunsthistoriker Ernst Gombrich sprach sogar von »Bildungs-
religion«.5 Die idealisierte »deutsche Kultur«, zu deren Gunsten in jüdischen
Familien eigene Traditionen in den Hintergrund rĂĽckten, beinhaltete fĂĽr die
meisten Aufklärung und europäisches Weltbürgertum. Sie knüpfte in ihren
Gleichheits- und Rationalitätspostulaten an die für die Emanzipation der Jüdin-
nen und Juden bedeutsame 1848er-Revolution an.6 Schiller, Lessing, Kant und
Herder – die Werke der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus – wur-
den als »Propheten der deutschen Kultur für die Förderung universaler mensch-
licher Werte« mit einer Ehrerbietung behandelt, die früher Patriarchen des Al-
1 BV, Gekritzel auf der RĂĽckseite eines Reisepasses, in : Kaiser (Hg.), Viertel, Das graue Tuch, 1994,
173.
2 BV, Die Sprache, in : Kaiser (Hg.), Viertel, Das graue Tuch, 1994, 403.
3 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 2009, 85–94, 86–89.
4 Csáky, Gedächtnis der Städte, 2010, 140–142, 206 und 220–238.
5 Gombrich, Ernst, »Niemand hat je gefragt, wer jetzt gerade ein Jude oder ein Nichtjude war« bzw.
Pollak, Kulturelle Innovation, in : Botz u.a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, 2002, 86–87 bzw. 104.
6 Maderthaner, Wolfgang und Silverman, Lisa, »Wiener Kreise« : Jewishness, Politics and Culture in
Interwar Vienna, in : Holmes, Deborah/Silverman, Lisa (Hg.), Interwar Vienna : Culture between
Tradition and Modernity, New York 2009, 59–80, 72.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359